Während des Lurija-Kongresses im Sommer 2002 [1] in Bremen wurde ich von der Redaktion von FRAGILE gefragt, ob ich einen Beitrag zur Persönlichkeit des Wachkomapatienten schreiben könne. Das Ungewöhnliche an dieser Frage ist, dass in der Neuropsychiatrie und Hirnforschung zwar etliche Syndrome von verlorenen, zerstückelten, fremdinterpretierten oder auch anderweitig „verrückten” Persönlichkeitsveränderungen als Folge einer schweren Hirnschädigung bekannt sind [2]. Gerade aber, weil im Falle eines Wachkomas (sog. apallischen Syndroms) eine schwerstgradige Dissoziation und Schädigung der integrierten Leib-Seele-Geist-Einheit, des Selbst, vorliege, könne, wie in der defektmedizinischen Literatur und in der bioethischen Debatte immer wieder zu lesen und zu hören ist, ein Wachkomapatient lediglich als Mensch und nicht als Person existieren und folglich keine Persönlichkeit haben. Somit wäre die Frage nach einer Persönlichkeit im Wachkoma ein Selbstwiderspruch. Die Frage nach der Persönlichkeit im Wachkoma signalisiert einen deutlichen Zweifel und steht im Widerspruch zum defektmedizinischen Dogma. Was müsste geschehen, wenn der Wachkomapatient doch eine Persönlichkeit „hätte”? Der Herausforderung, die durch diesen Zweifel an scheinbar vertrauten philosophischen, Positionen zum Verhältnis von Mensch und Person, Bewusstsein und Koma, Menschenwürde und Persönlichkeit angesprochen wird [3], werde ich mich in diesem Beitrag stellen.
1 Erschienen im Themenheft „Lernen” (2/2003) der Zeitschrift FRAGILE der Selbsthilfeorganisation FRAGILE Suisse in Zürich/Schweiz
Literatur
1
Gehirn, Geschichte und Gesellschaft .
Die Neuropsychologie Alexandr R Lurijas (1902 - 1977). Tagung zum 100. Geburtstag A. R. Lurijas am 5. - 6.7.2002 in der Universität Bremen.
2 Feinberg T E. Gehirn und Persönlichkeit. Was das Erleben eines stabilen Selbst zustande kommt. Kirchzarten; VAK Verlags GmbH 2002
3 Zieger A. Personsein, Körperidentität und Beziehungsethik - Erfahrungen zum Dialogaufbau mit Menschen im Koma und Wachkoma. Strasser P, Starz E Personsein aus bioethischer Sicht. Beiheft 73 des Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie Stuttgart; Steiner 1997: 154-171
13 Zieger A. Wieviel Gehirn braucht ein Mensch? Dialogaufbau mit Menschen im Koma und apallischen Syndrom. Doering W, Doering W, Dose G et al Sinn und Sinne im Dialog Dortmund; Borgmann Publ 1996: 57-93
14 Zieger A. Dialogaufbau in der Frührehabilitation mit Komapatienten auf der Intensivstation. Neander KD, Friesacher H, Meier G Handbuch der Intensivpflege Landsberg; ecomed-Verlag 1993 Kapitel IV 2.4: 1-24
15 Zieger A. Neuropsychologie und Körpersemantik am Beispiel von Wachkomapatienten. Hannich HJ, Hartmann U, Wiesmann U Inkorporation - Verkörperung - Leiblichkeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Lengerich, Berlin; Pabst Science Publishers 2002: 73-76
16
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Zeitschrift der Schweizerischen Vereinigung für hirnverletzte Menschen.
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3
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17
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18 Zieger A. Zur Philosophie und Praxis des Dialogaufbaus mit Menschen im Koma und apallischen Syndrom. Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V Interdisziplinäre Zusammenarbeit - Illusion oder Vision? Kongressbericht zur XXII. Arbeitstagung in Münster 1996 Hamm; Wilke 1996: 657-678
19 Zieger A. Frührehabilitation schwerst-hirngeschädigter Menschen im Akutkrankenhaus - ein neues Aufgaben- und Erfahrungsfeld für Pädagogen/Sonderpädagogen?. Westphal E Pädagogische Rehabilitation als Gestalt im Werden Oldenburg; Didaktisches Zentrum der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 1999: 97-105
38 Johnson V. Experimental Recall of Coma Imagery. Shorr JE et al Imagery. Its Many Dimensions and Applications New York; Plenum Press 1980: 357-374
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