Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2004; 39(2): 69-70
DOI: 10.1055/s-2004-817673
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

HES und kein Ende

HES - Once AgainH.  A.  Adams, G.  Hempelmann
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
09. Februar 2004 (online)

Im vorliegenden Heft befasst sich ein Beitrag von S. Suttner und J. Boldt [10] mit dem Einfluss von Hydroxyethylstärke (HES) auf die Nierenfunktion. Die Arbeit wirft erneut ein Schlaglicht auf die nicht enden wollende Diskussion um die Vor- und Nachteile der heute verfügbaren Volumenersatzlösungen auf der Basis künstlicher Kolloide [1]. Dies ist erstaunlich, da die künstlichen Kolloide doch seit vielen Jahren bekannt sind. Gelatine-Lösungen werden seit 1915, Dextran-Lösungen seit 1944 und HES-Lösungen seit 1962 am Menschen eingesetzt - lediglich das Polyvinylpyrrolidon hat seit 1940 nur ein kurzes, aber trotzdem verdienstvolles Zwischenspiel gegeben. Zunächst einmal liegt damit der Schluss nahe, dass keines dieser Kolloide a priori obsolet ist, zumal regionale Bevorzugungen einzelner Kolloide (Gelatine in Großbritannien, Dextran in Skandinavien, HES in Deutschland) unübersehbar sind. Lediglich in den USA scheint ein gewisser Nachholbedarf zu bestehen, da noch 1997 in einer renommierten Zeitschrift der Frage [12] nachgegangen wurde, ob HES denn nun sicher sei - dies nach vieljährigem erfolgreichen Einsatz zumindest hierzulande.

Es geht also wohl eher um die Bewertung gradueller Unterschiede als um die Bewältigung augenscheinlicher Probleme. Die Überbetonung manchmal eher dezenter Unterschiede erfolgt nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines großen und offensichtlich noch lukrativen Marktes mit Packungspreisen von etwa 3 - 18 €; je nach Zubereitung und Bezugsquelle [8]. Auch vor der Darstellung geradezu erstaunlicher Wunderwirkungen wurde nicht zurückgeschreckt [11]. Umso wichtiger ist es, die Diskussion auf eine wissenschaftlich rationale Basis zu stellen. Worum geht es überhaupt? Letztlich stehen folgende Eigenschaften der künstlichen Kolloide im Vordergrund der Diskussion: Die Volumenwirksamkeit, der Einfluss auf das Gerinnungssystem, die Effekte auf die Nierenfunktion sowie die Inzidenz und der Schweregrad von Unverträglichkeitsreaktionen (UVR) - die Wertigkeit der Speicherung im Monozyten-Makrophagen-System soll hier einmal unbeachtet bleiben.

Um mit dem letzten Punkt, den UVR, zu beginnen - seit der Studie von J. Ring und K. Meßmer aus dem Jahr 1977 [7] unter Einsatz von über 200 500 Einheiten hat sich die Verwendung von Dextran in unserem Lande gegen Null entwickelt, obwohl die Untersuchung keineswegs eine statistische Signifikanz erbrachte, und Dextran in Skandinavien weiter und erfolgreich benutzt wird. Hierzu ist allenfalls anzumerken, dass der praktische Einsatz von Dextran durch die Hapten-Prophylaxe gerade präklinisch erschwert wird. Die genannte Studie hat ebenso wie die Untersuchung von M. C. Laxenaire et al. 1994 [6] an über 19 500 Patienten letztlich keinen Hinweis auf signifikante Unterschiede zwischen den künstlichen Kolloiden bezüglich der Inzidenz von UVR erbracht - dies abgesehen von dem statistisch unzulässigen Versuch [6], drei sehr unterschiedlich besetzte und bewertete Gelatine-Gruppen zusammengefasst einer besonders günstigen HES-Gruppe gegenüber zu stellen.

Die Literatur zu den negativen Gerinnungseffekten der künstlichen Kolloide ist kaum zu überblicken und kann hier nicht im Einzelnen bewertet werden. Insgesamt weist Dextran die größten und die Gelatine die geringsten Effekte auf. Dabei kommt die Gelatine - wohl eher historisch bedingt - ohne eine hämostaseologisch empfohlene Maximaldosis aus, was sie zum beliebten Vergleichspartner verschiedener HES-Lösungen macht [4] und durchaus damit endet, dass diese oder jene HES-Lösung ebenso verträglich ist wie eine Gelatine-Lösung [5].

Ähnlich verhält es sich mit den Niereneffekten. Auch hier gilt Dextran als besonders bedenklich und Gelatine als weitgehend inert. Die meisten Hersteller von Gelatine-Lösungen kommen daher in ihrem Rote-Liste-Eintrag [8] ohne eine entsprechende Gegenanzeige aus, während z. B. für 6 % HES 130/0,4 „Nierenversagen mit Oligo- od. Anurie” und für HES 200/0,5 „Nierenversagen” oder „Störungen der Nierenfunktion mit Oligo-/Anurie” genannt sind. Hier ist es das Verdienst der oben genannten Arbeit von S. Suttner und J. Boldt [10], ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass HES eben nicht gleich HES ist, dem Molekulargewicht und dem Hydroxyethylierungsgrad eine wichtige Rolle zukommt, und allgemeine klinische Aspekte wie die ausreichende Zufuhr von kristalloiden Lösungen nicht vernachlässigt werden dürfen. Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass zumindest 6 % HES 200/0,62 im Vergleich mit 3 % Gelatine 30 bei Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock die Nierenfunktion deutlich negativ beeinflusst [9] und auch subtilere Hinweise auf eine Nierenschädigung bestehen [3] - Befunde, die weiterer Aufmerksamkeit bedürfen und klinisch relevant sind.

Bei allem Für und Wider der Nebenwirkungen soll aber die Hauptwirkung nicht in Vergessenheit geraten. Mit den künstlichen Kolloiden sind uns wirksame Volumenersatzlösungen in die Hand gegeben, die bei allen Einschränkungen - wie fehlende Fähigkeit zum Sauerstoff-Transport und fehlende Gerinnungswirkung - in nahezu allen klinischen Situationen zumindest die Brücke bis zum Einsatz von Blutkomponenten schlagen oder für sich allein ausreichend sind, auch einen größeren Blutverlust zu kompensieren. Und auch hier gibt die Datenlage zum Nachdenken Anlass. In zumindest zwei größeren Studien [2] [5] konnte keine unterschiedliche Volumenwirksamkeit der untersuchten HES- und Gelatine-Lösungen belegt werden - ein Kostenvergleich wurde nicht angestellt und hätte sicher interessante Ergebnisse erbracht. Und damit heißt es beim Blick in die Zukunft nicht nur „HES und kein Ende”, sondern wohl eher „HES, Gelatine, Dextrane oder Andere - und kein Ende”.

H. A. Adams, G. Hempelmann

Literatur

  • 1 Adams H A, Piepenbrock S, Hempelmann G. Volumenersatzmittel - Pharmakologie und klinischer Ersatz.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 1998;  33 2-17
  • 2 Beyer R, Harmening U, Rittmeyer O, Zielmann S, Mielck F, Kazmaier S, Kettler D. Use of modified fluid gelatin and hydroxyethyl starch for colloidal volume replacement in major orthopaedic surgery. .  Br J Anaesth. 1997;  78 44-50
  • 3 Dehne M G, Mühling J, Sablotzki A, Papke G, Kuntzsch U, Hempelmann G. Einfluss von Hydroxyethylstärke-Lösung auf die Nierenfunktion bei operativen Intensivpatienten.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 1997;  32 348-354
  • 4 Fries D, Innerhofer P, Klingler A, Berresheim U, Mittermayr M, Calatzis A, Schobersberger W. The effect of combined administration of colloids and lactated Ringer's solution on the coagulation system: An in vitro study using thrombelastograph coagualation analysis (ROTEG).  Anesth Analg. 2002;  94 1280-1287
  • 5 Haisch G, Boldt J, Krebs C, Kumle B, Suttner S, Schulz A. The influence of intravascular volume therapy with a new hydroxyethyl starch preparation (6 % HES 130/0.4) on coagulation in patients undergoing major abdominal surgery.  Anesth Analg. 2001;  92 565-571
  • 6 Laxenaire M C, Charpentier C, Feldman L. Réactions anaphylactoïdes aux substituts colloidaux du plasma: Incidence, facteurs de risque, mécanismes. Enquête prospective multicentrique française.  Ann Fr Anesth Réanim. 1994;  13 301-310
  • 7 Ring J, Meßmer K. Incidence and severity of anaphylactoid reactions to colloid volume substitutes.  Lancet. 1977;  1 466-469
  • 8 Rote Liste Win® 2003/II. .ECV Editio. Cantor Verlag 2003
  • 9 Schortgen F, Lacherade J C, Bruneel F, Cattaneo I, Hemery F, Lemaire F, Brochard L. Effects of hydroxyethylstarch and gelatin on renal function in severe sepsis: A multicentre randomized study.  Lancet. 2001;  357 911-916
  • 10 Suttner S, Boldt J. Beeinflusst die Gabe von Hydroxyethylstärke die Nierenfunktion?.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2004;  39 71-77
  • 11 Vincent J L. Plugging the leaks? New insights into synthetic colloids.  Crit Care Med. 1991;  19 316-317
  • 12 Warren B B, Durieux M D. Hydroxyethyl starch: Safe or not?.  Anesth Analg. 1997;  84 206-212