Fortschr Neurol Psychiatr 2004; 72(9): 523-531
DOI: 10.1055/s-2004-818384
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Ich bin wohl zufrieden mit dieser Auslegung meiner Träume.” - Begegnungen in Leben und Werk zwischen dem Psychiater Johann Christian August Heinroth und dem Dichter Johann Wolfgang von Goethe

“I am Rather Satisfied with this Interpretation of my Dreams.” - Real-Life and Work-Related Encounters Between Psychiatrist Johann Christian August Heinroth and Poet Johann Wolfgang von GoetheS.  Schmideler1 , H.  Steinberg1
  • 1Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie (Direktor: Prof. Dr. med. M. C. Angermeyer), Universität Leipzig
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Publikationsdatum:
30. August 2004 (online)

Zusammenfassung

Johann Christian August Heinroth (1773 - 1843) ist neben seinen Verdiensten als einer der maßgeblichen Wegbereiter der modernen Psychiatrie vor allem als erster akademischer Psychiater in Europa mit einem eigenen Lehrstuhl an der Universität Leipzig im Bewusstsein der Medizingeschichte geblieben. Im Grunde unbekannt ist, dass ihn seine wissenschaftliche Arbeit auch in Kontakt mit dem Weimarer Dichter und Naturwissenschaftler Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832) brachte.

Erstmals werden in diesem Aufsatz eingehend die vielfältigen Bezugsmomente untersucht, die sich zwischen beiden entspannen. Ausgehend von einer Retrospektive auf das Verhältnis Goethes zur Psychiatrie seiner Zeit wird unter Auswertung bisher zum Teil unbekannt gebliebener Schriftstücke von der Hand Heinroths und auf der Grundlage der literarischen und wissenschaftlichen Zeugnisse Goethes die Besonderheit der gegenseitigen Einflussnahme beschrieben und gedeutet. Das Hauptaugenmerk gilt dabei Heinroths „Lehrbuch der Anthropologie” (1822), in dem der Psychiater die Formel vom „gegenständlichen Denken” prägte, die für Goethe und Heinroth gleichermaßen zentrale Bedeutung erlangte.

Der in Auseinandersetzung mit Goethes Art der „Anschauung” entstandene Begriff des „gegenständlichen Denkens” erweist sich dabei sowohl für Heinroths Art des Erkenntnisgewinns im Allgemeinen als auch für sein psychiatrisches Krankheitskonzept im Speziellen als entscheidend. Besonders evident zeigt sich Goethes Einfluss in Heinroths ausgeprägter ganzheitsmedizinischer Sichtweise auf psychische Krankheit. Äußeres Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung beider ist schließlich auch der Besuch Heinroths bei Goethe am 15. September 1827 gewesen.

Abstract

Apart from being a major pioneer of modern psychiatry, Johann Christian August Heinroth (1773 - 1843) is foremost famous as the first academic teacher, professor of this subject at Leipzig University. Despite his theoretical concepts being thoroughly investigated by medical historians, the fact that his scientific work also brought him in contact with Weimar poet and scientist Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832) has up to now not been acknowledged.

This paper analyses for the first time the manifold points of contact between the two geniuses. Starting off with a retrospective on Goethe's relationship towards psychiatry in his day, this paper investigates the mutual interconnections and influences between the two. This is achieved by an analysis of yet unknown primary sources as well as Goethe's literary and scientific works. A main emphasis is also placed on Heinroth's Textbook of Anthropology of 1822 in which the psychiatrist laid out his understanding of ‘relational thinking’ (gegenständliches Denken), a key concept for both.

This theory developed from Heinroth's dealing with Goethe's concept of “anschauung” and was to gain major importance not only for his way of gaining knowledge in general but also for his psychiatric concept. Goethe's influence on Heinroth is particularly revealed in the latter's holistic views on mental illnesses. Heinroth's visit to Goethe on 15 September 1827 can be earmarked as a sign of their mutual esteem.

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1 So ([13], S. 207): „Von den zeitgenössischen Lehrern der hiesigen Hochschule [Leipzig] hat Goethe viele wo(h)l nur ihren Werken nach gekannt, ohne dass irgendein, oder doch ohne dass ein nachhaltiger persönlicher Verkehr stattfand.”

2 Gemeint ist der Weimarer Hofmedicus und Hausarzt Goethes Wilhelm Rehbein (1776 - 1825), den Goethe als Mediziner und Gesprächspartner zu physiologischen und pathologischen Fragen sehr schätzte.

3 Hiermit wird erstmals auf Heinroths bedeutende und umfangreiche Rezensionstätigkeit in den führenden Literaturblättern seiner Zeit verwiesen. So war auch die hier zitierte Rezension der Werke Walter Scotts bisher keinem Autor eindeutig zuzuordnen. Erst nach umfangreichen Recherchen der beiden Autoren konnte die Autorschaft Heinroths über dessen der Universitätsbibliothek Leipzig übergebenen Nachlass nachgewiesen werden.

Sebastian Schmideler

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