Krankenhauspsychiatrie 2004; 15(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2004-818403
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychiatrie in Osteuropa - wer veranlasst eine „Enquête”?

Psychiatrie in Eastern Europe - Who will Arrange an “Enquête“? P.-O.  Schmidt-Michel1 , M.  Wunder1
  • 1Zentrum für Psychiatrie - Die Weissenau und Evangelische Stiftung Alsterdorf
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
15. März 2004 (online)

In der letzten Ausgabe haben wir mit Kollegen aus Hamburg und Weissenau über die derzeitige Lage der Psychiatrie in Rumänien aus Sicht von NGOs berichtet. Nach vereinzelten Einblicken in andere Psychiatrien in Osteuropa und insbesondere in weitere „Kliniken für chronisch psychisch Kranke” in Rumänien beginnt sich bei uns ein Bild zu verdichten: Aufgrund der für breite Teile der Bevölkerung äußerst schwierigen Übergangssituation einiger ehemals kommunistischer Länder zu „früh”-kapitalistischen Strukturen scheint sich in Meilenstiefeln eine extreme Schere zwischen Arm und Reich zu entwickeln. Gleichzeitig verfallen alte Identitätsmuster und moralische Standards. Wie immer in solchen Übergangssituationen trifft es Einrichtungen mit einer hohen Konzentration von Menschen, die ausgesondert und von einer Alltagsversorgung durch andere abhängig, sind, in besonderem Maße: Gefängnisse, Kliniken für chronisch psychisch Kranke und Behinderteneinrichtungen. Die Menschen in diesen abgeschlossenen Institutionen können für ihre eigene Existenz kaum einen Beitrag leisten. Aufgrund ihrer Isolation können in der Regel auch die Angehörigen nicht helfen. Ein nach westeuropäischen Maßstäben humaner Standard scheint bezüglich der psychiatrischen Versorgung jenen Ländern gut zu gelingen, die einen historisch bedingt näheren kulturellen Bezug zu Westeuropa hatten (z. B. Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei - die besondere Situation im ehemaligen Jugoslawien/Albanien einmal ausgeklammert).

Dr. M. Wunder

Prof. Dr. P.-O. Schmidt-Michel

Nach unseren Einblicken insbesondere in Rumänien befinden sich dort die chronisch psychisch Kranken am „Ende des Gesundheitswesens” unter Zuständen, die u. E. als passive Euthanasie bezeichnet werden müssen. Diese ist gekennzeichnet durch:

Mangelernährung und Hunger unzureichende oder nicht vorhandene Behandlung körperlicher Erkrankungen geringste Möglichkeiten zur eigenen Hygiene hohe Infektions- und Sterberate Kasernierung von 20 bis 80 Personen in einem (zum Teil geschlossenen) Raum keinerlei aktivierende Behandlung und Förderung, dadurch Destruktion des Tagesablaufes und innere und äußere Verwahrlosung der Patienten gesellschaftliche Abschottung der Einrichtungen an entlegenen Orten keine Wege aus der Institution heraus zurück in die Dörfer und Städte quantitativ und qualitativ unzureichende Personalausstattung Etablierung von Kommandostrukturen unter den Patienten (Kalfaktorensysteme).

Dies trifft sicherlich für noch viel mehr Kliniken und Behinderteneinrichtungen auch in Russland, Weißrussland, Moldawien, der Ukraine und Bulgarien zu - Zeitungsberichte geben hierfür ständig neue Nahrung. In diesen Kliniken haben die psychisch Kranken und geistig Behinderten (die regelmäßig in diesen Kliniken mit untergebracht sind) außer bei einem Teil des direkt betreuenden Personals keinerlei Fürsprecher in Behörden und Parteien - in Rumänien z. B. erfahren sie die gleiche Ausgrenzung wie Sinti, Roma und Homosexuelle. Hochtechnologische Medizin wird in diese Länder immer mehr exportiert und vergrößert den Versorgungsunterschied zwischen den somatisch Kranken (der sicher ebenfalls noch nicht ausreichend ist) und den psychisch Kranken und Behinderten. Diese Situation ähnelt mithin durchaus der Zeit vor der Psychiatrie-Enquête in der Bundesrepublik Deutschland.

Die EU und die Weltbank unterstützen berechtigt die Bemühungen der Regierungen in Rumänien und Bulgarien um ihren EU-Beitritt. Für Rumänien ist sogar Ende der 90er Jahre die Weiterführung der Beitrittsverhandlungen von der Verbesserung der Situation in den Kinderheimen abhängig gemacht worden. Mit dem Erfolg, dass hier der rumänische Staat tatsächlich viel verändert hat, aber bedauerlicherweise nur für den Kinderbereich. Weshalb wird nicht zur Auflage gemacht, dass ein Teil der Subventionen in die Veränderung der Psychiatrie und der Sozialsysteme für die über 18Jährigen investiert wird?

Die deutsche Psychiatrie hat nach eigener Erfahrung mit „Euthanasie” durch Hungersterben (aufgearbeitet von Heinz Faulstich) an psychisch Kranken und Behinderten vor und nach beiden Weltkriegen eine besondere Erfahrung mitzuteilen und sollte sich deshalb zumindest um die Veröffentlichung dieser Verhältnisse bemühen, besser aber durch Partnerschaften und Austauschprogramme direkt engagieren.

Prof. Dr. Paul-Otto Schmidt-Michel

Zentrum für Psychiatrie Weissenau

88214 Ravensburg

eMail: paul-otto.schmidt-michel@zfp-weissenau.de

URL: http://beclean-ev.de