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DOI: 10.1055/s-2004-818935
Balint verbindet - weltweit
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
26. März 2004 (online)
Erstmals seit dem 5. Internationalen Kongress 1980 in Köln fand vom 1. bis 5. Oktober 2003 wieder ein internationaler Balint-Kongress in Deutschland statt. Rund 160 Teilnehmer aus 25 Ländern tauschten sich aus zum Thema „The doctor, the patient and their well-being - world wide”.
Für eine Tagung um den Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober herum konnte es keinen idealeren Tagungsort für Begegnungen und Austausch geben als Berlin. Da die Bundeshauptstadt zudem seit 1983 jedes Jahr Ort einer Balint-Tagung ist, war der internationale Kongress zugleich die 21. Berliner Tagung. 160 Teilnehmer, 79 Frauen und 81 Männer im Alter von 22 bis 90 Jahren aus 25 Ländern in Europa und Übersee waren angereist - eine Teilnehmerin sogar aus Australien. Der älteste Teilnehmer hatte Michael Balint noch persönlich kennen gelernt und in London an Gruppen mit Enid Balint teilgenommen.
Ziel der Tagung war es, die Erfahrungen in den verschiedenen Gesundheitssystemen der unterschiedlichen Länder zusammenzutragen, „to merge science and medicine”. So erläuterte Kongresspräsidentin Heide Otten die Wahl des Kongressthemas „The doctor, the patient and their well-being world wide (in context of today’s health-systems)” und hob die wichtige Aufgabe der Prävention von burn-out bei Ärzten hervor. Passend dazu schmückte das Kongressprogramm und die Kongressplakate das Gemälde „Science and Charity” des erst 15-jährigen Pablo Picasso.
Werner König als lokaler Gastgeber hatte für die Tagung die traditionsreichen Räume der Kaiserin-Friedrich-Stiftung inmitten des historischen Ambiente der Charité ausgewählt. Die Stiftung ist benannt nach Viktoria (1840 - 1901), der ältesten Tochter von Queen Victoria und Witwe von Kaiser Friedrich III., dem 99-Tage-Kaiser, der tragisch im Dreikaiserjahr 1888 an Kehlkopfkrebs verstarb. Nach seinem Tode setzte sich Kaiserin Viktoria besonders für die ärztliche Fortbildung ein.
Gerade für einen Balint-Kongress waren Tagungsort und -stätte gut gewählt, lebte doch Michael Balint selbst von 1920 bis 1924 als junger Arzt und Biochemiker in Berlin und arbeitete bei Otto Warburg, der 1931 den Nobelpreis erhielt, an seiner Dissertation in Biochemie - neben der Lehranalyse bei Hanns Sachs. Balint, daran erinnerte Ernst Richard Petzold in seinem Kongress-Beitrag, war der erste Arzt, der an der Berliner Charité Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen psychoanalytisch behandelte.
John Salinsky, scheidender Generalsekretär der International Balint-Society, eröffnete den Vortragsreigen mit dem historischen Überblick „Fiat Lux: The history of the Balint movement” und zeigte mit einem „lightbulb joke”, dass Kongressbeiträge durchaus humorvoll sein dürfen: How many psychotherapists do you need to change a lightbulb? Only one, but the lightbulb must really really want to change! - Dass auch die Ärzte sich ändern müssen, unterstrich Benyamin Maoz (Israel) in seinem Vortrag „Balint groups as a way to prevent ‚burn-out‘ of physicians“. Er wies auf die Ergebnisse seiner Forschungen in Israel hin, wonach es einem Allgemeinpraktiker bei mehr als 4,6 Patienten in der Stunde nicht mehr gelingen könne, psychische Probleme bei Patienten zu erkennen, geschweige denn zu behandeln. Maoz betonte, wie wichtig es ist, dass der Arzt gut für sein eigenes Wohlergehen sorgt und sich um seine Gesundheit kümmert, zum Beispiel durch mehr Urlaub, um seinen Patienten richtig helfen zu können. Günther Bergmann (Österreich) gab einen exzellenten Überblick über die Visionen und Herausforderungen der Balint-Arbeit für das neue Jahrhundert in einer sich rasch wandelnden medizinischen Welt. Nach diesem Ausblick in die Zukunft lud Michelle Moreau-Ricaud, eine hervorragende Expertin für das Leben Michael Balints, die Teilnehmer zu einem spannenden historischen Exkurs ein. Sie stellte die speziellen Beziehungen von Balint zu Berlin vor, und warum er gerade diese Stadt für seine Forschungen ausgewählt hatte. Für viele Balint-Ärzte sicherlich neu war die Information, dass Balint der ungarische Name für Valentin, den „saint of the lovers”, ist. Weitere interessante Details aus seinem Leben sind in Moreau-Ricauds Beitrag zum umfangreichen Kongressband nachzulesen, der von John Salinsky und Heide Otten herausgegeben wurde und auf über zweihundert Seiten die Tagungsbeiträge zusammenfasst.
Tags darauf gab Michel Delbrouck (Belgien) einen umfassenden Überblick über burn-out-Syndrome und die Deckmäntelchen, unter denen sie noch aufzutreten pflegen, zum Beispiel Karoshi (Tod durch Überarbeitung) in Japan. Weitere Beiträge in der Sektion „Balint work around the world” kamen aus Israel, Großbritannien, Schweden, der Schweiz und aus Ungarn. Einige Glanzlichter aus der nachfolgenden Sitzung „Student Balint-Work” seien noch hervorgehoben: Iveta Zedková (Tschechien) und Barbara Jugowar (Polen) stellten hoffnungsvolle und engagierte Ansätze für studentische Balint-Arbeit in Olomouc (Olmütz) und Poznan (Posen) vor. Immerhin hat Polen bereits 1991 die Balint-Arbeit in das medizinische Curriculum aufgenommen.
Diese Vorträge waren ein gelungener Auftakt für den Höhepunkt dieser Vormittagssitzung, die Verleihung des Ascona-Preises. Er wird künftig im jährlichen Wechsel bei den internationalen Tagungen und in Ascona verliehen. Erster Preisträger des Ascona-Preises 2003 ist Tim Niemeyer, der in Marburg studiert. Der zweite Preis ging an Istvan Györi aus Debrecen (Ungarn) und der dritte Preis an Alexandra Monica Constantinescu aus Bukarest (Rumänien).
Aber auch die praktische Balint-Arbeit kam nicht zu kurz: Es standen Fishbowl- und Demonstration-groups (prismatisch, imaginativ, Skulptur) sowie Kleingruppen- und Leiterseminare in englischer, französischer, polnischer und deutscher Sprache auf dem Programm. Darin wurde die ganze Vielfalt der Balint-Arbeit aufgezeigt, so dass jeder Teilnehmer die Vorgehensweise in anderen Ländern oder mit anderen Techniken hautnah erleben konnte. Obwohl Englisch offizielle Kongresssprache war, wurde hier wieder deutlich, dass nicht die perfekte Beherrschung der Sprache das Wesentliche am Fall vermittelt. In der Sektion „Modifications of Balint Work” stellten Stephan Alder und Alfred Drees die Konzepte der Balintgruppen mit Imagination und der prismatischen Balintgruppen vor, bei den Forschungsvorträgen Donald Nease (Ann Arbor, Michigan, USA) spezielle Programme für das leadership-training. So flossen unterschiedliche Traditionen aus den einzelnen Ländern ein und die Teilnehmer erlebten verschiedene Leiterstile. Der Gewinn aus dem Besuch eines internationalen Kongresses, eingeschliffene eigene Verfahrens- und Verhaltensweisen zu hinterfragen, wurde so besonders deutlich. Vor diesem Hintergrund ist das in der Schlussrunde von vielen Teilnehmern genannte große Bedürfnis nach noch mehr Diskussionsmöglichkeiten zu verstehen, wofür aufgrund der Fülle des wissenschaftlichen Programms manchmal zu wenig Zeit blieb. Fleißig wurden daher die Kontakte bei informellen „Nach-Sitzungen” in dem am Spreeufer gelegenen Bierlokal „Ständige Vertretung”, einem traditionsreichen und ständig überfüllten Ort der Begegnung, gepflegt.
Denn auch wegen des Rahmenprogramms war Berlin wieder einmal eine Reise wert: Die Stadtrundfahrten führten den raschen Wandlungsprozess entlang der früheren deutsch-deutschen Grenze und das pulsierende Leben der Hauptstadt vor Augen. Eine Führung durch das Gelände der Charité, mittlerweile das größte Klinikum Europas, glich einem Gang durch die deutsche Medizingeschichte mit herausragenden Gestalten wie Robert Koch für die Bakteriologie, Ferdinand Sauerbruch für die Chirurgie und Albrecht von Graefe für die Augenheilkunde. An der Charité wurde auch die erste Kinderklinik eingerichtet. Das Denkmal Robert Kochs (1843 - 1910) gegenüber der Kaiserin-Friedrich-Stiftung imponierte den Balintianern besonders, vermittelt dessen Haltung doch, dass er den Patienten nicht nur zuhört, sondern sie auch anschaut. War Robert Koch also ein früher Balint-Arzt?
Zu jedem Kongress gehört ein Fest, in dem die tagsüber aufgeworfenen Fragen in lockerer Runde weiterdiskutiert werden können. Die Funky-Klezmer-Klängen der „Grinen Kuzine” (wer Erinnerungen auffrischen möchte: www.kuzine.de) hoben sich erfrischend von der üblichen Kongress-Walzerseligkeit ab. Die Musiker verstanden es hervorragend, osteuropäische Lieder und Volksmusik mit modernen Elementen zu verbinden, und verlockten zu mancher Polonäse und gemeinsamem Rundtanz. Auch die Bilder vom Tanzabend können in der Fotodokumentation des Kongresses auf der Homepage der Deutschen Balint-Gesellschaft (www.balintgesellschaft.de) angeschaut werden.
Dass Balint geschlechtsspezifisch unterschiedlich wirkt, wurde am Abschlussstatement einer Teilnehmerin deutlich, zu dem sie vielleicht beim Kongressfest inspiriert wurde: „I have never been in a surrounding where so many men smiled”. Allein diese Feststellung wäre der Vertiefung auf dem nächsten internationalen Kongress wert.
So ist alles im Fluss, spürbar bei der abschließenden gemeinsamen Bootsfahrt auf der Spree von ehemals Ost nach ehemals West und retour, vorbei an den Stellen, wo die Mauer zwischen Ost und West verlief. Trotz des Ausstiegs in der Nähe des ehemaligen Tränenpalasts am Bahnhof Friedrichstraße ging die Runde in fröhlicher Stimmung und innerlich bereichert auseinander, mit den allerbesten Erinnerungen an einen außergewöhnlichen Kongress und die herzliche Gastfreundschaft von Helga und Werner König - und mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen beim nächsten internationalen Kongress in Stockholm.
Abb. 1 Die Teilnehmer (Foto: Simone Höckele)
Abb. 2 Blick ins Plenum (Foto: Simone Höckele)
Abb. 3 Verleihung des Ascona-Preises (Foto: Simone Höckele)
Abb. 4 Robert Koch, ein Balint-Arzt? (Foto: Simone Höckele)
Dr. med. Steffen Häfner
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