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DOI: 10.1055/s-2004-818994
Moderne Verfahren zur Hörrehabilitation - Möglichkeiten und Grenzen
Modern Approaches to Auditory Rehabilitation - Chances and LimitationsPublication History
Publication Date:
16 June 2004 (online)
Liebe Leserinnen und Leser,
das vorliegende Themenheft von Sprache - Stimme - Gehör ist den modernen Verfahren zur Hörrehabilitation gewidmet, wobei diese Kurzform der inhaltlichen Abgrenzung der tatsächlich behandelten Thematik nur unvollkommen gerecht werden kann, denn der thematische Anspruch dieses Hefts ist durchaus weiter zu fassen. So versteht es sich von selbst, dass die aktuellen Interventionsstrategien nicht allein auf die Rehabilitation bzw. bei Kleinkindern auf die Habilitation des Hörvermögens abzielen, sondern den Anspruch verfolgen, das Kommunikationsvermögen ganzheitlich so zu verbessern, dass die Betroffenen den Kommunikationserfordernissen ihres persönlichen Alltags ausreichend gewachsen sind. Insofern sollen die technischen und therapeutischen Maßnahmen, die heute zum Einsatz gelangen, die Betroffen in die Lage versetzten, ihren persönlichen Lebensstil in möglichst allen Lebenssituationen in Beruf, Familie, Freundeskreis und Freizeit möglichst so pflegen zu können, wie sie es ohne die Hörbehinderung tun würden. Als Maximierung des Zugewinns an Lebensqualität könnte man diesen ultimativen Anspruch formulieren, dem sich alle Berufsgruppen stellen müssen, die in verschiedenen Funktionen an diesem Rehabilitationsprozess beteiligt sind!
Das Verständnis für diesen holistischen Ansatz erschließt sich noch besser, wenn man die aktuellen Definitionen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) heranzieht, die 2001 unter dem Titel International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) veröffentlicht wurden (http://www3.who.int/icf/icftemplate.cfm). In dieser Neufassung werden, wie in Abb. [1] dargestellt, die herkömmlichen Begriffe wie Handicap und Behinderung verlassen und durch eine multidimensionale Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen den drei Hauptbereichen Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation/Teilhabe sowie endogener und exogener Einflüsse ersetzt. Dabei verzichtet die WHO-Definition auf eine detaillierte Modellierung der Interaktion der einzelnen Blöcke in Abb. [1], sondern versteht sich als eine Grundlage, auf deren Basis genauere Modellvorstellungen entwickelt und verfolgt werden können. In erster Linie ist natürlich von der Kausalität auszugehen, dass die Störung einer Körperfunktion (hier: Hörstörung) zunächst eine Einschränkung der Aktivitäten (früher: Handicap) und sekundär einen (partiellen) Ausschluss von der sozialen Teilhabe (früher: Behinderung) zur Folge hat. Wie die Abbildung jedoch verdeutlicht, sind auch Wechselwirkungen in der Gegenrichtung wie auch externe Einflussfaktoren zu berücksichtigen.
Abb. 1
Vor diesem Hintergrund ist die inhaltliche Struktur des vorliegenden Themenhefts zu sehen und zu verstehen. So geht der einleitende Artikel von W. Delb und M. Praetorius auf die Pathophysiologie der Schallempfindungsstörungen ein, um das grundlegende Verständnis der darauf aufsetzenden Interventionsstrategien zu erleichtern. Im Anschluss daran befasst sich F. Rosanowski und U. Hoppe mit Fragen der Diagnostik und Behandlung von einseitigen Innenohrschwerhörigkeiten bei Kindern und Jugendlichen, einem Krankheitsbild, dem noch vor einem Jahrzehnt kaum klinische Relevanz zugemessen wurde, das aber nach heutigem Verständnis ein differenziertes, am persönlichen Bedarf orientiertes Vorgehen erfordert.
Nach diesen beiden grundlegenden Beiträgen verschafft M. Latzel einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Hörgerätetechnologie und ordnet die scheinbar unüberschaubare Fülle technischer Neuentwicklungen. Dabei wird auch die Wirksamkeit der gängigen technologischen Lösungen angesprochen, was für die Patientenberatung von besonderem praktischen Wert ist. Selbstverständlich bedarf es eines systematischen Vorgehens, um die komplexe Hörgerätetechnik an die individuellen Eigenschaften des pathologischen Gehörs anzupassen. Mit dieser Fragestellung setzt sich T. Steffens auseinander, indem er die einzelnen Anpassschritte erläutert und - wo möglich - den Bezug zur Pathophysiolgie des Gehörs sowie zu den verfügbaren technischen Lösungen herstellt.
Wie der folgende Beitrag von M. Kinkel verdeutlicht, verfügt man heute für die Hörrehabilitation im Kindesalter aber auch für Erwachsene über eine Vielzahl von Zusatzgeräten und flankierenden Zusatzeinrichtungen zu Hörgeräten, die sehr wirkungsvolle und nützliche Lösungen für vielerlei Probleme und Beschwerden bieten können. Dieser Komplex technischer Lösungsmöglichkeiten, der in vielen Ländern, wie z. B. in Skandinavien, bei der individuellen Rehabilitationsplanung grundsätzlich in die Überlegungen einbezogen wird, fristet in den deutschsprachigen Ländern leider ein Schattendasein. Dementsprechend sollte das Beratungsverhalten in diesem Punkt aktualisiert werden, indem den Zusatzeinrichtungen stärkere Beachtung geschenkt wird.
Leider nur sehr spärlich ausgebildet ist hierzulande auch das therapeutische Rehabilitationsangebot für Erwachsene im Anschluss an die Hörgeräteversorgung. Während in der Pädaudiologie flächendeckende und alle Altersklassen umfassende Förderangebote existieren, fehlen entsprechende, ambulante Angebote für Erwachsene noch fast vollständig. Diese Feststellung impliziert natürlich nicht, dass alle Erwachsenen nach Hörgeräteanschaffung an einem systematischen Kommunikationstraining teilnehmen sollten oder gar müssen. Vielmehr ist der persönliche Bedarf im Einzelfall sorgfältig abzuklären, aber im Positivfall sollte ein flächendeckendes audiotherapeutisches Angebot verfügbar sein, wie es im Artikel von H. Seidler und B. Seidler-Fallböhmer beschrieben und gefordert wird.
So hoffen Schriftleitung und Gasteditor, dass es uns mit dem vorliegenden Themenheft wenigstens ansatzweise gelungen sein möge, die zahlreichen Fassetten des Themenbereichs Hörrehabilitation praxisrelevant darzustellen und zu Reflektionen anzuregen. Dabei war es ein besonderes Anliegen, die neuesten technischen Errungenschaften nicht unkritisch oder gar euphorisch abzuhandeln, sondern neben den faszinierenden Möglichkeiten der modernen Hörtechnologie auch deren Grenzen und, wo nötig, die Schwachstellen unseres Versorgungssystems aufzuzeigen. Diese Grundhaltung soll zum einen dazu dienen, die Leserschaft der Zeitschrift Sprache - Stimme - Gehör praxisnah und unverfälscht zu informieren. Vielleicht kann hiermit aber auch ein Beitrag dazu geleistet werden, dass bestehende Mängel erkannt werden und aufbauend darauf Schritt für Schritt Abhilfe geschaffen wird. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine interessante und hoffentlich anregende Lektüre dieses Themenhefts, dessen Beiträge je nach Interessenlage durchaus auch modular gelesen werden können.