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DOI: 10.1055/s-2004-820276
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Vom Ernst zum Spiel und zurück
Ein Aspekt der systemischen SexualtherapiePublication History
Publication Date:
22 July 2004 (online)
Die Lösungsperspektiven, die zu den beiden Konfliktachsen (Balance und Entwicklung) gehören, unterscheiden sich nicht nur inhaltlich, sondern auch modal, also in der Form, im Ton, der die „Musik” der Prozess-Steuerung macht. Therapien sind nicht nur ergebnisorientierte Veranstaltungen zur Lösung von persönlichen Problemen. Sie bewegen sich in einer Ästhetik, in der Tempo, Energielevel, Farbigkeit, Geschmack, dramaturgische Spannung in Szene gesetzt werden, die den inhaltlichen Konflikt- und Entscheidungslinien erst ihre sinnliche Qualität geben. Zur Kennzeichnung dieser modalen Unterschiede will ich auf die oben eingeführten Modi von Pathos und Ironie zurückgreifen und zeigen, warum die Nutzungen beider Modi, des pathetischen Ernstes und der ironischen Spiels therapeutisch fruchtbar sein kann.
Das Votum, sowohl mit Pathos wie mit Ironie zu arbeiten, sowohl Ernst wie Spiel einzusetzen, vom einen zum andern und wieder zurück zu gehen, ist ein Votum für die Nutzung des binokularen Blicks, der erst den Zugang zur Tiefendimension von Lebensentscheidungen möglich macht. Therapien, die einem rein pathetischen Muster folgen, die also nur ernst sind, die auf Wahrhaftigkeit und Authentizität bauen, legen sich zugleich aber auf den Zustand der Schwere fest und bleiben ohne Not unbeweglich. Sie verschenken die Möglichkeit, die der ironische Spiel-Modus nutzt, nämlich im Erproben und in der Leichtigkeit Denk- und Handlungsoptionen ins Auge zu fassen, ohne sich gleich darauf festzulegen. Umgekehrt bleiben Therapien flach und unbefriedigend, die den Modus des Spiels nicht verlassen können, die ausschließlich im Experimentierenden bleiben, in paradoxen Techniken, im Jonglieren mit Als-ob-Perspektiven, wie sie die systemische Tool-Box in reichem Umfang anbietet, weil sie lediglich die Optionen öffnende, nicht die Optionen schließende, also Entscheidungen treffende Perspektive in den Blick nehmen. Das ist die Gegenseite des systemischen ethischen Axioms, wie es Heinz von Foerster formuliert hat: „Handle so, dass die Zahl deiner Handlungsmöglichkeiten zunimmt.” Das ist eben nur ein Typ von Entscheidungen. In vielen relevanten Übergangssituationen geht es um Entscheidungen, die Handlungsmöglichkeiten reduzieren. Sämtliche Bindungsentscheidungen gehören dazu. Freiheit ist nicht durch das ständige Offenhalten aller Möglichkeiten gekennzeichnet, sondern durch die Wahlmöglichkeit zwischen Offenheit und Festlegung.
Eine therapeutische Prozess-Steuerungs-Kompetenz liegt darin, situationsabhängig beide Klaviaturen spielen zu können und sich im Betriebsmodus Ernst wie im Betriebsmodus Spiel gleich gut bewegen zu können. Genauer noch: Der Therapeut muss sowohl in der Lage sein, auf Ernst ernst einzugehen wie auf Spiel spielerisch, als auch die Möglichkeit haben, den angebotenen Ernst (der Klage, des Leidensdrucks) spielerisch in Frage zu stellen und das angebotene Spiel (Herumprobieren, stagnierende Ambivalenzen, repetitive Streitmuster) dem Ernst von Entscheidungen zuzuführen.
Literatur
- 1 Davidson J K, Hoffman L E. Sexual fantasies and sexual satisfaction: An empirical analysis of erotic thought. J Sex Res. 1986; 22 184-205
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2 Foerster H v. KybernEthik. Berlin: Merve; 1993
- 3 Hariton E B, Singer J L. Women’s fantasies during sexual intercourse: Normative and theoretical implications. J Consult Clin Psychol. 1974; 42 313-322
- 4 Price J H, Miller P A. Sexual fantasies of black and white college students. Psychol Rep. 1984; 54 1007-1014
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5 Welter-Enderlin R, Hildenbrand B. Systemische Therapie als Begegnung. Stuttgart: Klett-Cotta; 1996
- 6 Welter-Enderlin R, Jellouschek H. Systemische Paartherapie - ein integratives Konzept. In: Wirsching M, Scheib P (Hrsg). Paar- und Familientherapie. Berlin u. a.: Springer. 2002; 199-226
1 Es ist für Therapeuten zunächst schwer zuzugestehen, dass sie als Geprüfte auch in einer One-down-Position gegenüber den Klienten sind. Tatsächlich stärkt das Bewusstsein um diese Position die therapeutischen Handlungsmöglichkeiten mehr, als es sie schwächt. Dafür muss der Therapeut aber die Prüfung als Prozess mit offenem Ausgang sehen, in der auch die Klienten ihre eigene Einstiegs- oder Rückzugsbereitschaft prüfen.
2 Die Vertreter des Meilener Begegnungsmodells (Welter-Enderlin und Hildenbrand 1996; Welter-Enderlin und Jellouschek 2001) sprechen hier von einer „Metastabilisierung durch emotionale Rahmung” und verstehen hier ebenfalls eine vom Therapeuten zu gewährleistende emotionale holding function, die für das relativ instabilere Klientensystem Veränderung ermöglicht.
3 Um nicht in übereilte Vereinfachungen zu geraten: Auch das sexuelle Ausgeliefertsein kann von der Phantasie zum Wunsch werden, zur Verwirklichung locken und in sorgfältig inszenierten Ritualen umgesetzt werden. Man ist nie sicher.
4 Ich lehne mich an die Unterscheidung an den Alpha- und Beta-Fehler aus der Inferenzstatistik an: Der Alpha-Fehler behauptet das Bestehen eines statistischen Zusammenhangs, obwohl dieser tatsächlich nicht besteht (falsch-positiv); der Beta-Fehler behauptet das Nichtbestehen eines Zusammenhangs, obwohl dieser tatsächlich doch besteht (falsch-negativ).
5 Natürlich gibt es sexuelle Entwicklungen, die nicht durch Entscheidungen zustande kamen, durch Krankheiten etwa, Unfälle, Schicksalsschläge. Aber auch solche Ereignisse, die ungewollt und unbeeinflusst passieren, werden erst durch Entscheidungen zu Entwicklungen.
Prof. Dr. U Clement
Heidelberger Institut für systemische Forschung und Therapie
Kußmaulstr. 10
69120 Heidleberg
Email: UlClement@aol.com