Laryngorhinootologie 2004; 83(11): 775-776
DOI: 10.1055/s-2004-825943
Rundtischgespräch
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Bedeutung soziokultureller Faktoren für die Sprachentwickung

The Importance of Socio-cultural Factors for the Development of Speech and LanguageR.  Marx, M.  Rausch, K.  Ring, R.  Schönweiler, P.  G.  Zorowka, A.  Keilmann1
  • 1Klinik für Kommunikationsstörungen der Universität Mainz
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Publication Date:
11 November 2004 (online)

Anlass des Rundtischgespräches waren die zahlreichen Presseberichte, die in den letzten Jahren von einer Zunahme der Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern berichteten. Ob Sprachentwicklungsstörungen tatsächlich häufiger auftreten, wird noch kontrovers diskutiert. Es ist auch nicht gesichert, aus welchen Gründen die Sprachentwicklungsstörungen zugenommen haben. Eröffnet wurde die Diskussion mit einer Tabelle, die die Angaben der einzelnen Bundesländer zur Häufigkeit von Sprachentwicklungsstörungen, wie sie bei den Einschulungsuntersuchungen festgestellt wurden, wiedergab. Diese Erhebungen werden in verschiedenen Bundesländern schon unterschiedlich viele Jahre durchgeführt. Leider unterscheidet sich die Methodik, die in den verschiedenen Ländern eingesetzt wird, so dass die Zahlen aus verschiedenen Bundesländern nicht miteinander vergleichbar sind. Interessant ist aber doch, dass in den jeweiligen Bundesländern mit gleich bleibender Methodik zunehmende Prävalenzen ermittelt wurden.

Da in verschiedenen Publikationen die Begriffe Sprachentwicklungsstörung, Sprachentwicklungsverzögerung, Spracherwerbsstörung, Sprachentwickungsbehinderung unterschiedlich gebraucht werden, wurden im Rahmen der Podiumsdiskussion zunächst die Begrifflichkeiten noch einmal definiert. Es bestand Konsens darüber, dass es sich bei Sprachentwicklungsstörungen um zeitliche und/oder inhaltliche Abweichungen von der normalen Sprachentwicklung im Kindesalter, isoliert oder im Zusammenhang mit weiteren Störungen der kindlichen Entwicklung auftretend, handelt. Dabei können isolierte Sprachentwicklungsstörungen, häufig in Form der spezifischen Sprachentwicklungsstörung, von kombinierten Sprachentwicklungsstörungen unterschieden werden, bei denen die Sprachentwicklungsstörungen mit anderen Beeinträchtigungen, die ursächlich infrage kommen, auftreten. In den letzten Jahren haben dabei besonders die Kinder, die bis zum 2. Geburtstag nicht über mindestens 50 Wörter verfügen oder noch keine Zweiwortäußerungen gebrauchen, Aufmerksamkeit erhalten. Diese „late talker” sind mindestens bis zur Hälfte Risikokinder für eine Sprachentwicklungsstörung, 35 bis 50 % dieser Kinder holen in der Sprachentwicklung bis zum 3. Geburtstag auf.

Klassifiziert man Spracherwerbsstörungen nach der Ätiologie, so findet sich zum einen die Gruppe der spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kinder, die etwa 8 % der Bevölkerung betrifft. Es handelt sich um eine eigenständige Erkrankung, von der Jungen doppelt so häufig betroffen sind wie Mädchen. Die Kinder weisen zeitliche und inhaltliche Abweichungen rezeptiver und/oder expressiver Sprachleistungen auf, ohne dass Ursachen, wie eine Intelligenz- oder Sinnesbehinderung, nachweisbar wären. Liegen dauerhafte mentale, motorische, psychische oder sensorische Behinderungen, wie Entwicklungsverzögerungen, Anfallsleiden, Autismus oder Blindheit vor, dann kann von einer Sprachentwicklungsbehinderung gesprochen werden. Liegen hingegen vorübergehende, behandelbare Krankheiten, z. B. Schallleitungsschwerhörigkeiten, eine Hypertrophie der Gaumen- oder Rachenmandeln vor, dann kann von der symptomatischen Spracherwerbsstörung gesprochen werden. Unter einer Sprachentwicklungsverzögerung versteht man eine rein zeitliche Abweichung, unter Sprachentwicklungsstörungen zeitliche und inhaltliche Abweichungen.

Die Problematik der Sprachuntersuchung besteht darin, dass sie in der Regel sehr zeitaufwändig ist, weil unterschiedliche Aspekte der Sprache erfasst werden müssen und mögliche Ursachen und Komorbiditäten untersucht werden müssen. Zur Erfassung des Sprachentwicklungsstandes müssen die phonetisch-phonologische Ebene, die semantisch-lexikalische Ebene, die grammatikalische Ebene und die pragmatische Ebene expressiv und rezeptiv erfasst werden. Zur Feststellung der Ursachen oder von Komorbiditäten sind die Spiegeluntersuchung von Ohr, Nase, Hals, die Beurteilung des Hörvermögens und der Entwicklung der auditiven Wahrnehmung, die Untersuchung des Sehvermögens und der Entwicklung der visuellen Wahrnehmung, die Erfassung der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung und der intellektuellen Entwicklung, die Feststellung der motorischen Entwicklung (fein und grob) sowie der Lateralitätsentwicklung und auch die Einschätzung des sozialen und familiären Umfeldes notwendig. Insbesondere zur Erfassung des Sprachentwicklungsstandes steht bis heute kein allgemein anerkanntes und alle Aspekte erfassendes Untersuchungsinstrument für alle Altersgruppen zur Verfügung. Durch den Wandel des Sprachgebrauches in unserer Gesellschaft kann auch ein heute gültiges Instrument nicht für alle Zeiten unverändert genutzt werden.

Trotzdem lässt sich aufgrund der Untersuchungen der letzten Jahre, die mit gleich bleibender Methodik durchgeführt wurden, zeigen, dass Sprachentwicklungsstörungen in den letzten Jahren zugenommen haben. Im Podium herrschte Konsens darüber, dass Sprachentwicklungsstörungen beim männlichen Geschlecht und in ungünstigeren sozialen Schichten häufiger sind und insbesondere Hörstörungen, Mundmotorikprobleme und grobmotorische Störungen bei diesen Kindern häufig beobachtet werden. In dieser Hinsicht ist in den letzten Jahren aber keine wesentliche Änderung eingetreten. Die trotzdem feststellbare Zunahme der betroffenen Kinder und insbesondere der schwerer betroffenen Kinder wurde von den Diskussionsteilnehmern auf verschiedene Ursachen zurückgeführt. In den Familien könnten eine Zunahme des Medienkonsums, eine Abnahme der Zwiegespräche und des Vorlesens hierfür verantwortlich sein. In der Umgebung ist eine Zunahme von Lärm und Störgeräuschen festzustellen.

Wie vielfach beobachtet wird, wirkt sich der schlechtere Spracherwerb auch unmittelbar auf den Leseschreiberwerb aus. Kinder mit Spracherwerbsstörungen tragen ein höheres Risiko in der Schule zu scheitern.

Von ärztlicher Seite gibt es verschiedene Interventionsmöglichkeiten: Vordringlich erscheint die individuelle Beratung der Eltern, in der vermittelt wird, wie sprachliche Anregung gestaltet werden kann und das kommunikative Verhalten in der Familie verbessert werden kann. Die Sprechfreude der Kinder soll erhalten und verbessert werden. Im Umgang mit sprachlichen Fehlern, die beim Kind beobachtet werden, soll das korrektive Feedback eingesetzt werden, in vielen Fällen muss zum richtigen Umgang mit einer Mehrsprachigkeitssituation beraten werden, auch spielerische mundmotorische Übungen können von den Eltern durchgeführt werden. Liegen organische Ursachen der Sprachentwicklungsstörung vor, so muss nach entsprechender augenärztlicher Untersuchung eine entsprechende Behandlung begonnen werden. Von HNO-ärztlicher oder pädaudiologischer Seite muss abgeklärt werden, ob Paukenergüsse vorliegen, die einer Operation bedürfen, oder eine angeborene Schwerhörigkeit, die der Hörgeräteversorgung bedarf. In diesen Fällen muss auch an eine Hörerziehung gedacht werden. Liegen Abweichungen der Artikulationsorgane, z. B. eine verdeckte Gaumenspalte vor, dann muss die operative Behandlung erwogen werden. In Abhängigkeit vom genauen Störungsbild müssen professionelle Therapien, wie Frühförderung, Heilpädagogik, Ergotherapie, Krankengymnastik, Motopädie oder sensorische Integrationstherapie, indiziert werden. Eine logopädische Therapie ist entsprechend den Heil- und Hilfsmittelrichtlinien und dem Prinzip des Notwendigen, nicht Wünschenswerten, bei Kindern ab 3 Jahren mit Sprachentwicklungsstörungen indiziert. Kinder, die im Alter von 3 Jahren lediglich unter einer leichten Sprachentwicklungsverzögerung leiden, sollten in einem Kindergarten aufgenommen werden, die Eltern beraten werden. Auch bei 4-jährigen Kindern können leichtere Störungen, etwa eine Dyslalie ohne pathologische phonologische Prozesse noch mit einer Beratung ausreichend behandelt werden. Liegen aber schwere Dyslalien oder eine Sprachentwicklungsstörung vor, dann ist eine Übungstherapie indiziert. Kinder mit schweren Sprachentwicklungsstörungen können auch in einem Sprachheilkindergarten aufgenommen werden. Liegen im Alter von 5 Jahren immer noch Sprachentwicklungsstörungen vor, dann sollte dringlich über eine Intensivierung der Therapie nachgedacht werden, ggf. auch eine stationäre Therapie der Sprachentwicklungsstörung erwogen werden.

Einig waren sich die Diskutanten darüber, dass es sich bei den Sprachentwicklungsstörungen um ein zunehmendes Problem handelt, dem sich von ärztlicher Seite vor allem Ärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie, Kinderärzte und HNO-Ärzte annehmen müssen. Für die Kinder, bei denen die Sprachentwicklungsstörung als Erkrankung oder Symptom einer Krankheit auftritt, muss eine vernünftige Elternberatung und eine ausreichende logopädische Therapie zum optimalen Zeitpunkt, in der Regel also früh, gewährleistet sein. In der Qualifikation der Erzieher gibt es im Hinblick auf die Sprachförderung noch deutliche Lücken, wenn auch z. B. in Rheinland-Pfalz erst jüngst in den Ausbildungsplan für Erzieherinnen 80 Stunden über Sprachentwicklung aufgenommen wurden. Trotz dieser Bemühungen werden auch in Zukunft Kinder bleiben, die im vorschulischen oder schulischen Bereich der besonderen pädagogischen Förderung zur Entwicklung der Sprache bedürfen. Die Sprachbeherrschung bleibt nämlich der wichtigste Schlüssel für unsere Kultur. Da für die Erlernung der Sprache und Schriftsprache sensible Phasen existieren, d. h. dass der Erwerb in bestimmten Lebensabschnitten wesentlich leichter gelingt, sind die Bemühungen um den rechtzeitigen Erwerb der Sprache und der Schriftsprache auch überlebenswichtig für unsere Kultur und für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes.

Prof. Dr. Annerose Keilmann

Klinik für Kommunikationsstörungen

Langenbeckstraße 1 · 55101 Mainz

Email: keilmann@kommunikation.klinik.uni-mainz.de