Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(23): 1336
DOI: 10.1055/s-2004-826871
Pro & Contra

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ist die Fibromyalgie eine Erkrankung? - Pro

Fibromyalgia - is it a disease? - proW. Müller1 , T. Stratz1
  • 1Institut: Hochrhein-Institut für Rehabilitationsforschung, Bad Säckingen
Further Information

Publication History

eingereicht: 14.11.2003

akzeptiert: 15.1.2004

Publication Date:
21 July 2004 (online)

Nach den Kriterien des American College of Rheumatology versteht man unter der Fibromyalgie ein chronisches generalisiertes Schmerzsyndrom im muskuloskelettalen System mit einer Hyperalgesie, die an der erhöhten Druckschmerzhaftigkeit der sog. „tender points” erkennbar ist und über evozierte Potenziale und das funktionelle MRI [2] objektiviert werden kann. Zusätzliche Symptome sind vegetative und funktionelle Störungen sowie psychopathologische Veränderungen [3].

Wie beim „low back pain” handelt es sich bei der Fibromyalgie nicht um eine Entität, sondern ein Syndrom, dessen Ursachen von somatischen Prozessen bis zur somatoformen Schmerzstörung und zur major depression reichen. Beispiel für eine somatische Genese ist die sog. sekundäre Fibromyalgie, die sich im Rahmen anderer Erkrankungen, insbesondere entzündlich-rheumatischer Systemerkrankungen entwickelt und meist ohne stärkere psychische Veränderungen verläuft. Durch die Behandlung der Grundkrankheit kommt es bei einem Teil dieser Fälle zu einem Abklingen auch der fibromyalgischen Symptome, bei anderen persistiert die Schmerzssymptomatik infolge eines Chronifizierungsprozesses. Bei den „primären” Fibromyalgie-Syndromen handelt es sich u. E. vorwiegend um organische Schmerzsyndrome mit psychischer Komorbidität, wobei psychische Faktoren eine mit-auslösende oder mit-unterhaltende Rolle spielen können. Ausgangspunkt für die Schmerzen ist meist die Wirbelsäule [4], wie der monolokuläre Schmerzbeginn im Rücken, die sehr häufigen Fehlhaltungen und -formen des Achsenorgans sowie seine funktionellen Störungen und die begleitende durch Sauerstoffmessungen, Magnetresonanzspektrographie, Positronenemissionstomographie u. a. objektivierbare Dysbalance der Rückenmuskulatur zeigen. Bei der allmählichen Generalisierung der Schmerzen im Laufe von Jahren sind z. T. die muskuläre Dysbalancen, vor allem aber eine zunehmende zentrale Sensibilisierung verantwortlich, die beide ihrerseits durch psychosoziale Probleme mit Stress, Angst und depressiven Verstimmungen gefördert werden. Für die letztgenannte Annahme spricht auch die signifikant raschere Entwicklung des Krankheitsbildes bei den oft entwurzelten Gastarbeitern [3]. Die Depression ist häufig reaktiver Natur, wie ihre Besserung parallel zur Schmerzlinderung erkennen lässt. Nur selten führt die „major depression” zu einem fibromyalgieartigen Krankheitsbild, meist fehlt hier die Hyperalgesie.

Selbstverständlich können sich auch somatoforme Schmerzstörungen als Fibromyalgie manifestieren (somatoforme Schmerzstörung vom Fibromyalgietyp), was bei der häufig vorhandenen psychosozialen Problematik nicht verwundert. Wie hoch der Anteil dieser Krankheitsgruppe an der Gesamtgruppe der Fibromyalgie ist, lässt sich nur schwer abschätzen, da objektive Kriterien für ihre Abgrenzung bisher noch fehlen. Nozizeptive Schmerzursachen sollten aber bei ihr auf jeden Fall ausgeschlossen werden [1]. Die Zuordnung pathologischer Laborbefunde zu den einzelnen Fibromyalgieformen ist leider noch unklar. Die Erniedrigung von Serotonin, Calcitonin und Somatomedin C im Serum ist allen bisher untersuchten schmerzhaften Erkrankungen gemeinsam und der Schmerz führt wahrscheinlich auch über ein Stresssyndrom zu den nachgewiesenen neuroendokrinologischen Veränderungen, die möglicherweise die Entwicklung der Fibromyalgie akzentuieren. Spezifischere Veränderungen sind die Erhöhung der Substanz P und besonders des „Nerve growth factors” im Liquor sowie das Auftreten von Zytokinen wie TNF-α, IL-6, IL-8 und IL-1RA in der Haut bei einem Teil der Patienten [5]. Die letztgenannten Veränderungen sind am ehesten einer neurogenen Entzündung zuzuordnen, ebenso wie die Schwellungszustände der Hände. Das Streben nach einer klaren Einteilung des Fibromyalgie-Syndroms in verschiedene Formen ist u. E. vom therapeutischen Standpunkt sehr wichtig, da die einzelnen Gruppen sehr unterschiedlich auf Medikamente wie Analgetika, Antiphlogistika, Antidepressiva, 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten oder Opioide u. a. ansprechen und auch in unterschiedlichem Maß einer Psychotherapie und physikalischen Behandlung bedürfen. Eine einseitige Betrachtungsweise ist sicher fehl am Platze.

Literatur

  • 1 Egle U T, Nickel R, Schwab R, Hoffmann S O. Die somatoforme Schmerzstörung.  Dtsch Ärzteblatt. 2000;  26 1469-1473
  • 2 Gracely R H, Petzke F, Wolf J M, Clouw D J. Functional magnetic resonance imaging evidence of augmented pain processing in fibromyalgia.  Arthr a Rheumab. 2002;  46 1333-1344
  • 3 Müller W. Generalisierte Tendomyopathie (Fibromyalgie). Steinkopff Darmstadt 1991
  • 4 Müller W, Kelemen J, Stratz T. Spinal factors in the generation of fibromyalgia syndrome.  Z Rheumatol. 1998;  57 36-42 (Suppl 2)
  • 5 Salemi S, Rethage J, Wolline U, Michel B A, Gay R E, Gay S, Sprott H. Detection of interleukin 1β (IL-1β) IL-6 and tumor necrosis factor-α of patients with fibromyalgia.  J Rheumatol. 2003;  30 146-150

Prof. Dr. Dr. h. c. W. Müller

Hochrhein-Institut für Rehabilitationsforschung e. V.

Bergseestraße 61

79713 Bad Säckingen