PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(3): 211-212
DOI: 10.1055/s-2004-828335
Editorial
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Narzissmus

Ulrich  Streeck
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Publication Date:
08 September 2004 (online)

Von dem Begriff „Narzissmus”, der auf die Sage von Narcissus und der Nymphe Echo aus dem dritten Buch der Metamorphosen von Ovid zurückgeht, ist im alltäglichen Sprachgebrauch oftmals nicht viel mehr geblieben als dessen Bedeutung im Sinne von Selbstverliebtheit. Bei Ovid ist das Schicksal von Narziss weit vielschichtiger: Narziss verweigert sich dem Begehren der Nymphe, er wünscht zu lieben, aber erkennt nicht, dass es sein eigenes Bild ist, dem sein Verlangen gilt („er hält für Körper, was Schatten”); Narziss verzweifelt darüber („mir ist der Tod nicht schwer, da im Tod aufhören die Leiden”) und stirbt schließlich; am Platz seines Körpers wächst eine Blume[1].

Auch im psychotherapeutischen Sprachgebrauch wird jemand dann „narzisstisch” genannt, wenn die betreffende Person sich selbst übermäßig wichtig zu nehmen, die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen und sich in erster Linie für sich selbst zu interessieren scheint. So ist „narzisstisch” zu einem abwertend-verächtlichen Ausdruck geworden; jemand gilt als „schrecklich narzisstisch”, als „reiner Narziss”, und auch Psychotherapeuten und Psychiater sind oft nicht frei davon, den Begriff statt als diagnostischen Begriff als abwertendes Label zu verwenden. Wie früher „hysterisch” meist mehr Ausdruck von Geringschätzung als diagnostisches Urteil war, hat heute „narzisstisch” häufig die Bedeutung eines abwertenden Etiketts für Menschen, an denen moniert wird, dass sie sich selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ihrer Umgebung stellen. Nicht selten wecken sie dadurch auch Neid bei ihren Mitmenschen.

Als klinischer Begriff taucht „Narzissmus” in der ICD-10 in Verbindung mit der „narzisstischen Persönlichkeitsstörung” auf, und auch dort wird die Selbstüberschätzung in den Vordergrund gestellt, ein „tief greifendes Muster von Großartigkeit”, das „Bedürfnis nach Bewunderung und Mangel an Empathie”, „ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit”, „Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe”, der Glaube, „,besonders‘ und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder angesehenen Personen verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können” sowie das Verlangen „nach übermäßiger Bewunderung”.

Allerdings wird bei den ICD-Kriterien auch der ausbeuterische Charakter zwischenmenschlicher Beziehungen genannt, die Unfähigkeit, sich in das Erleben anderer einzufühlen sowie Neid auf andere Personen, Phänomene, die klinisch oft weit weniger beachtet werden, weil sie nicht gleichermaßen wie Manifestationen von Grandiosität und Großartigkeit ins Auge springen. Dabei ist das häufige Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen meist eine weit einschneidendere Quelle des Leidens von Patienten mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen als der Umstand, dass sie sich selbst unrealistisch wichtig nehmen. Hinzu kommt, dass narzisstisch genannte Beeinträchtigungen der Selbstwertregulation keineswegs immer mit nach außen hin offenkundiger Selbstüberschätzung einhergehen; sie können sich auch hinter übermäßiger Bescheidenheit verbergen. Menschen mit narzisstischen Störungen können auf den ersten Blick sozial aufgeschlossen und gewandt erscheinen. Ihre Unfähigkeit, andere Menschen „in ihrem eigenen Recht” aus deren subjektiver Sicht zu verstehen, lässt sich nicht unbedingt an ihrem manifesten Verhalten ablesen, sondern tritt unter Umständen nur an der eigentümlichen emotionalen Flachheit und dem nichtssagenden Charakter ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen zutage.

Andere Patienten, deren seelische Beeinträchtigungen ebenfalls auf Störungen der Selbstwertregulation zurückzuführen sind, können sich nicht leiden, wüten gegen sich und verachten sich oder ekeln sich sogar vor sich selbst. Sie haben unerfüllbare Maßstäbe und hassen sich dafür, dass sie nicht so sind, wie sie meinen sein zu müssen, ohne Schwächen, ohne Fehler und in jeder Beziehung unabhängig. Sie fühlen sich unwert und nichtig, dann wieder anderen weit überlegen und grandios. Manche sind ständig mit sich selbst und mit ihrer Wirkung auf ihre Umgebung beschäftigt, während andere ihnen kaum der Beachtung wert zu sein scheinen.

Im Grunde sind sie sich ihrer selbst durch und durch unsicher. Bei genauem Hinsehen erweist sich ein nach außen hin dargestelltes Bild von Großartigkeit und Allmacht meist rasch als brüchig und unrealistisch. Die Meinung anderer mag ihnen gleichgültig erscheinen, aber tatsächlich sind sie hochgradig kränkbar und durch kritische Äußerungen leicht aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Diejenigen, die ihnen die eingeforderte Beachtung und Bewunderung nicht entgegenbringen, lassen sie fallen und verachten sie. Obwohl sie sich auf den ersten Blick zugewandt und freundlich verhalten mögen, stellt sich beim Gegenüber meist rasch das Gefühl ein, als Person von ihnen nicht wahrgenommen zu werden und nicht wirklich gemeint zu sein, sondern eine Funktion für sie erfüllen zu müssen.

Wenn es überhaupt zu einer Behandlung kommt - für Menschen, die eigentlich makellos und vollkommen sein müssen, ist es per se kränkend und beschämend, nach Hilfe nachzufragen - können Irritationen der therapeutischen Beziehung, die für andere vergleichsweise geringfügig sind, zu heftigen Reaktionen führen, bis hin zum Abbruch des therapeutischen Kontakts, was dann nicht unbedingt von lärmender Kränkungswut begleitet sein muss, sondern auch aus stiller Verachtung heraus vollzogen werden kann. Kann eine Therapie eingeleitet werden, wird der Therapeut oftmals idealisiert, manchmal schon innerhalb von kürzester Zeit, und ebenso unvermittelt kann die Idealisierung in Entwertung und Verachtung umschlagen.

Auf solche klinischen Auffälligkeiten, die sich um das eigene Bild und das Selbstwertgefühl drehen, bezieht sich der Begriff „narzisstische Störung”. Wenn von „narzisstischer Störung” die Rede ist, ist somit gemeint, dass sich die psychische Pathologie in erster Linie um Aspekte des Selbst und der Selbstwertregulation dreht. In dieser Bedeutung geht der Begriff somit über die Bedeutung von „sich selbst übermäßig wichtig nehmen”, „überhöhtes Selbstwertgefühl” o. ä. hinaus.

Von „Narzissmus” ist aber nicht nur in Verbindung mit psychopathologischen Phänomenen die Rede. Auch Verletzungen der körperlichen Integrität können als massive Angriffe auf die Identität und die Selbstwertregulation erlebt werden. Umgekehrt können manipulative Veränderungen des Körpers und des körperlichen Erscheinungsbildes dem Versuch dienen, das Selbstwertgefühl zu erhöhen. Verletzungen des Selbstwertgefühls können in gewalttätigem Verhalten münden, das gegen die eigene Person gerichtet wird; ebenso können sie der Ausgangspunkt von Gewalt gegen andere sein. Schließlich hat „Narzissmus” auch eine gesellschaftliche Dimension, und manchmal beklagen Kulturpessimisten die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse als „narzisstisch”.

Darum beschäftigen sich die Beiträge in dem vorliegenden Heft mit der Vielfalt der Klinik narzisstischer Störungen, darüber hinaus aber auch mit Problemen wie beispielsweise Organtransplantation oder Suizidalität alter Menschen, bei denen der Bezug zu Aspekten des Selbst und der Selbstwertregulation nicht gleichermaßen offenkundig ist. Wenn mit dem Thema „Narzissmus” schließlich auch gesellschaftlich relevante Fragen aufgegriffen werden wie beispielsweise die, ob der normale Sozialisationstyp unserer Gegenwart die narzisstische Persönlichkeit ist, dann deshalb, weil die meisten Psychotherapeuten, gleich welcher „Schulrichtung”, ihre klinische Praxis auch in darüber hinausweisenden Kontexten verorten und reflektieren wollen.

In der Hoffnung, dass dieses Heft dazu einige Hinweise bietet, wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre.

1 Ovid: Metamorphosen. In der Übersetzung von Reinhart Suchier. München 1959.