PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(4): 397-398
DOI: 10.1055/s-2004-828535
Resümee
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Die therapeutische Beziehung als Boden für therapeutisches Handeln

Michael  Broda, Wolfgang  Senf
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Publication Date:
07 December 2004 (online)

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Was haben wir aus all diesen interessanten Beiträgen für die therapeutische Arbeit gelernt und welche Fragen bleiben offen?

Ist die Unterscheidung zwischen Therapieperspektiven, die die Beziehung stärker gewichten, also zwischen den psychodynamischen Ansätzen und den humanistischen Verfahren einerseits und den eher technikbezogenen Perspektiven, also der Verhaltenstherapie und der systemischen Therapie andererseits, so noch aktuell?

Nach der Lektüre der Beiträge über die Therapieperspektiven wird klar, dass die These, dass sich manche Therapieverfahren stärker auf Aspekte der therapeutischen Beziehung konzentrieren und für andere Verfahren die Wichtigkeit nicht so bedeutsam ist, nicht aufrechterhalten werden kann. Alle Therapieperspektiven betonen die Wichtigkeit des Einbezugs der Therapiebeziehung als ein zentrales Bestimmungsstück ihrer therapeutischen Arbeit. Dies rückt etwas zurecht, was in der Vergangenheit zu der gewohnten Vorurteilsbildung zwischen den Therapieperspektiven beigetragen hat, was aber zweifelsohne in jeder Therapieperspektive enthalten ist. Die sich anschließende nicht uninteressante Frage, ob wir nicht jedoch unter gleichen Bezeichnungen unterschiedliche Inhalte fassen, mündete schon 1938 in einer Formulierung C. G. Jungs, indem er über die Integrationskommission der Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie äußerte:

„Unsere zugegebenermaßen lauwarmen und oberflächlichen Formulierungen brachten eine herzliche Zusammenarbeit zwischen Leuten zustande, die bis anhin meilenweit voneinander entfernt zu sein glaubten” (Jung 1938, zit. nach Huber 2000, S. 291).

Ist Beziehung alles? Diese etwas provokativ formulierte These unserer Diskussion lässt sich ebenfalls für keine der hier zu Wort kommenden Perspektiven beibehalten. Die Beziehung ist vielmehr der Hintergrund, auf dem sich therapeutische Arbeit vollzieht, eine Einbettung der Technik erlaubt und unseren PatientInnen eine angstfreiere Begegnung mit emotionalen, kognitiven und realen Zuständen und Situationen erlaubt.

Es ist dabei wenig verwunderlich, dass sich die grundlegenden therapeutischen Ansätze auch jeweils in der Beschreibung der therapeutischen Beziehung niederschlagen und dass Beziehung unter Dimensionen gesehen wird, die für die jeweilige Therapieperspektive zentral sind. So finden wir Systemeinflüsse, die Wirkung in der aktuellen Therapieinteraktion, den Einfluss von Schemata und Lernerfahrungen ebenso wie Annahme und Akzeptanz als zentrale Aspekte therapeutischer Beziehung in den unterschiedlichen Beschreibungen. Die jeweilige Perspektive instrumentalisiert somit auch die Auffassung von Therapiebeziehung als Beleg für die eigene Theoriebildung - ein verständlicher, aber nicht unbedingt weiterführender Fakt. Ein psychodynamisch ausgebildeter Vertreter wird uns die Wichtigkeit der biografischen Schemata, möglicherweise unter einer Konfliktperspektive begründen, die Verhaltenstherapeutin mag sich eher auf die Bedeutsamkeit der professionellen Arbeitsbeziehung im Therapiekontext konzentrieren. Dass GesprächspsychotherapeutInnen die Empathie und Akzeptanz im Vordergrund sehen, überrascht ebenfalls nicht. Und selbstverständlich sieht ein systemisch geschulter Therapeut das Setting, die Auftragslage oder andere soziale Realitäten als beteiligte Dimensionen. Recht scheinen irgendwie alle zu haben.

Dennoch bleibt die Frage: Wo gelingt uns der Blick über den Tellerrand unserer eigenen Ausbildung? Woraus können wir Anregungen entnehmen und unsere Sichtweise von therapeutischer Beziehung reflektieren? Können VerhaltenstherapeutInnen sich auf Übertragungsphänomene einlassen, können GesprächspsychotherapeutInnen Systemgesichtspunkte übernehmen und können AnalytikerInnen wie SystemikerInnen die beziehungsgestaltende Kraft von Außenübungen erfahren oder bedingungslose Wertschätzung ausdrücken? Sicher nur, wenn damit auch eine Erweiterung oder ein temporärer Wechsel der Perspektiven einhergeht. Denn verstanden werden können die unterschiedlichen Aspekte der therapeutischen Beziehung nur unter Verwendung der jeweiligen Therapieperspektive. Dies wiederum setzt eine Offenheit für Lernen voraus, im Unterschied zur ausschließlichen Darstellung eines eigenen und „richtigen” Standpunkts.

Es gibt weitere Lernmöglichkeiten: der Körper als Beziehungsinstrument in der Interaktion und die Beziehung des Körpers zur Umwelt, die Spezifika in den Beziehungen zu Menschen anderer Kulturkreise, Einfluss von Geschlecht, Bildung, sozialem Status. Es gibt zahlreiche Aspekte in der therapeutischen Beziehung, auf die wir achten müssen und die wir aus anderen Perspektiven erlernen können.

Deswegen ist Beziehung jedoch sicher nicht alles, aber vielleicht ohne Beziehung alles nichts? Sie bildet offensichtlich den Boden, auf dem sich unsere Therapietechniken bewegen und ist, wie ein natürlicher Boden, nicht gleichmäßig und flach, sondern hügelig, manchmal holprig und mitunter sogar morastig. Unterschiedliche Perspektiven kommen mit unterschiedlichen Bodengegebenheiten unterschiedlich klar. Vielleicht gibt es keine Perspektive, die für sich in Anspruch nehmen kann, einen „All-terrain”-Zugang zu haben.

Hüten sollten wir uns aber auch vor einer einseitigen Blickrichtung der therapeutischen Beziehung in Richtung unserer PatientInnen: Denn es geht in den Überlegungen zur therapeutischen Beziehung nur zu einem Teil um die Frage, wie wir TherapeutInnen eine optimale „Gestaltung” dieser Beziehung bewerkstelligen können, die es unseren PatientInnen erlaubt, einen höchstmöglichen Gewinn aus der therapeutischen Arbeit zu ziehen. Es geht auch um die Frage der Belastungen der TherapeutInnen durch die therapeutische Beziehung, die enorme psychische Energie, die in diesen, oft schwierigen Beziehungen absorbiert wird. Auch die Gefahren des multiplen Missbrauchs der Therapiesituation zur Befriedigung unserer eigenen Bedürftigkeit in den Beziehungen ist ein ständiger Begleiter unserer Arbeit und kann offensichtlich eben nicht durch Unerfahrenheit oder Anfängerfehler erklärt werden. Was suchen wir TherapeutInnen in therapeutischen Beziehungen? Bewunderung, Verständnis, Intimität? Macht, Provokation, Selbstaktualisierung? Mit wie vielen PatientInnen sprechen wir intensiver als mit unseren eigenen PartnerInnen? Welche Hilfsmittel stehen uns zur Verfügung, um mit all diesen Belastungen und Verführungen der therapeutischen Beziehungssituation umzugehen? Supervision und Selbsterfahrung sind notwendige und wichtige Arbeitsmittel für TherapeutInnen - sind sie aber auch hinreichend? Wie können wir der ständigen Daueranforderung begegnen, gleichzeitig Teil und Agens in der Beziehung und parallel dazu Reflektor und Metakommunikator zu sein? Beziehung zu Menschen mit schwierigsten Beziehungsmustern herzustellen und dabei diese Beziehung als Diagnoseinstrument zu nutzen? Diese Fragen stellen sich nach der Lektüre der Beiträge und können wohl nicht in einem Nebensatz beantwortet werden. Sie beleuchten aber einen Aspekt unserer Arbeit, den wir selbst gerne ausblenden: unsere eigene psychische Verfassung und die Achtsamkeit, die wir uns selbst und unseren inneren Prozessen gegenüber aufbringen. PiD wird in absehbarer Zeit dieser Thematik ein eigenes Heft widmen.

Neben diesen kritischen Fragen darf aber auch nicht übersehen werden, dass wir in unserer Arbeit gerade auch durch unsere Fähigkeit, Beziehungen für einen definierten Zeitraum als neues Lernfeld anzubieten, eine hochwirksame Hilfe für unsere PatientInnen zur Verfügung stellen. Gerade unser Bemühen, durch Beachtung wichtiger Beziehungsaspekte, durch die Nutzung der Beziehung als Diagnoseinstrument und als Möglichkeit, ein Abbild sozialer Interaktionsrealitäten zu bekommen, schafft die Grundlage für eine hocheffektive Hilfe für unsere PatientInnen und macht die Psychotherapie zu einem Verfahren, das anderen Therapien im Gesundheitsbereich oftmals überlegen ist. Deswegen macht es aber auch Sinn, immer wieder diese Grundlage unserer Arbeit zu reflektieren: Wenn sich psychische und psychosomatische Störungen vor allem im sozialen Kontakt deutlich machen, dann sind wir als TherapeutInnen ein Bestandteil dieser Problematik mit allen Begrenzungen durch die Aktivierung unserer eigener Emotionen und allen Möglichkeiten, die sich aus der konsequenten Anwendung unseres Wissens von Beziehung ergeben.

Was bleibt zu klären? Offensichtlich ist die therapeutische Beziehung ein prozesshaftes, sich allen Möglichkeiten des Therapieverlaufs anpassendes und diesen veränderndes Geschehen. Wir können zwar versuchen, diesen Prozess zu gestalten, werden aber immer rekursiv auch von diesem Prozess beeinflusst werden. Diese Therapiebeziehung ist keine „Technik”, die angewandt werden kann, sie ist das sich ständig weiterentwickelnde Ergebnis eines gestalterischen Prozesses zwischen PatientIn und TherapeutIn. Damit wird auch klarer, dass es „die therapeutische Beziehung” nicht geben kann. Sie ändert sich ständig im Verlauf der Therapie, ist zu Beginn mit anderen Fragen behaftet als gegen Ende einer Therapie. Möglicherweise ist es gerade auch der Wandel in der Beziehung, der PatientInnen neue Lern- und Beziehungserfahrungen ermöglicht, vielleicht ist die „gleichbleibende” therapeutische Beziehung dann auch eher Ausdruck einer therapeutischen Stagnation und somit kontraproduktiv.

Vergessen sollten wir aber auch nicht den Hinweis meines Lehrers (MB) Fred Kanfer, der neben vielen wichtigen Aussagen zur therapeutischen Beziehungsgestaltung immer sagte: „Das Wichtigste in der Gestaltung der therapeutischen Beziehung zu Beginn einer Therapie ist, dass der Patient wiederkommt.” Wir können eben nur mit PatientInnen arbeiten, wenn diese auch weiterhin uns vertrauen, ihnen bei der Lösung ihrer Probleme behilflich zu sein. Dies bedeutet, dass wir das jeweils in unserer Macht Stehende tun müssen, dass Beziehungsaspekte den Vertrauensaufbau unterstützen und gleichzeitig oft schmerzhaften oder angstbesetzten Veränderungen den Weg bereiten. Mit manchen PatientInnen fällt dies sehr schwer, so schwer, dass manchmal ein Therapieabbruch als nahe liegendste Lösung erscheint. Es ist müßig zu sagen, dass PatientInnen dadurch meist nur einen weiteren Beziehungsabbruch zu ihrer Beziehungsgeschichte hinzufügen. Eigene Erfahrungen zeigen jedoch, dass wir gerade von solchen PatientInnen, die uns im Aufbau der therapeutischen Beziehung und in deren Halten die größten Schwierigkeiten machen, das meiste lernen können.