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DOI: 10.1055/s-2004-830090
80 Jahre „ Der Zauberberg”
Über die Reaktion der Ärzte auf den Roman Thomas Manns80 Years “The Magic Mountain by Thomas Mann”Comments on the Reaction by Physicians to this Novel Dem Andenken an Friedrich Trendelenburg (1916 - 2004) gewidmet. Anmerkung: Für freundliche Hilfe bei der Literatursuche und -beschaffung möchte ich in erster Linie Dr. Gunther Loytved, Medizinaldirektor, Gesundheitsamt Würzburg, danken.Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
09. November 2004 (online)


An widersprüchlichen Aussagen zu Thomas Mann und seinem Werk mangelte es nie. Die Reaktion auf den „Zauberberg”, der ab Ende November 1924 im Buchhandel erhältlich war, bildete keine Ausnahme. Die Rezeption des Romans aus dem Blickwinkel von Literaturkritik und Literaturwissenschaft war weder einheitlich noch eindeutig, ja noch bunter und widersprüchlicher als die Reaktion der Mediziner. Dass namhafte Literaturkritiker bei aller Bewunderung keinen wirklichen Zugang zu dem Werk fanden, ist aus vielem erkennbar. Als Beispiel möge die Besprechung des seinerzeit bekannten Feuilletonredakteurs der Frankfurter Zeitung dienen, eines schnellen Lesers, der bereits Mitte Dezember 1924 seine Kritik präsentierte; sein Resümee: ... „in der kalten Eisluft schriftstellerischer Meistertechnik laufen die Personen auf ihren Geleisen”. ... „Aber es ist kein Roman, der Leben schildert. ... Daher kann dieses riesige Erziehungsbuch trotz seiner Geistesfülle zu unserer inneren Führung keinen Beitrag leisten” [7]. Die literaturkritischen Betrachtungen ebben in Deutschland Ende der 20er Jahre ab, schwinden nach 1933 zunehmend, und mit der Ausbürgerung des Dichters 1936 fast restlos. Literaturwissenschaft und Feuilletonistik verfielen dem Zeitgeist, der lange wirksam blieb. In den letzten Jahrzehnten offerierte Interpretationen des Romans weisen recht unterschiedliche, ergänzende oder korrigierende Aussagen auf [84]. Die Rezeption scheint noch nicht abgeschlossen. In dem kürzlich erschienenen Kommentarband zum „Zauberberg” ist ein 24-seitiges Kapitel der Rezeptionsgeschichte des Romans gewidmet; sie schließt mit den Worten:. „Inzwischen aber ... hat die Zeit ihr Urteil unüberhörbar gefällt. „Der Zauberberg” rechnet nicht nur, wie Buddenbrooks, zur Weltliteratur. Er wird heute international auch in die erste Reihe der modernen Romane gestellt” [47]. Die ärztliche Reaktion, die alle Kritik zunächst bestimmte, wird in dem Kommentarband nur flüchtig abgehandelt [48].
Allein wie wurde das literarische Produkt von den Ärzten, speziell den Lungenspezialisten, die sich „vordergründig” betroffen fühlten, aufgenommen? Der Frage wurde schon nachgegangen [59] [60]. Doch welche Folgerungen haben sich daraus ergeben und was ist aus medizinhistorischer Sicht zum „Davoser Zauberberg” von einst und der damals geübten Tuberkulosebehandlung zu sagen? Bevor ich mich der „ärztlichen” Aneignungs- und Wirkungsgeschichte des Romans annehme, noch einige Vorbemerkungen zu dessen Autor und dessen Verbindung zur medizinischen Sphäre. Denn das umfangreiche literarische Werk Thomas Manns, dieses Schriftstellers, der wie kaum ein anderer im 20. Jahrhundert Weltgeltung erlangte, beschäftigt sich eingehend mit Krankheit und Tod, Ärzten und Kranken, mit Anatomie, Physiologie, Biologie und Phänomenen der Evolution und mit vielem Naturwissenschaftlichen mehr. Werk und Person des Dichters sind unverkennbar und auf verwunderliche Weise mit der Pneumologie verbunden. Da ist als erstes seine Novelle „Tristan” [33], die der S. Fischer-Verlag im Jahre 1903 gemeinsam mit 5 anderen Erzählungen in einem Band, der ebenfalls den Titel „Tristan” trug, herausgab; die Novelle spielt in einem Sanatorium, in dem auch Tuberkulosekranke betreut werden [34]. Die weibliche Hauptperson der meisterlichen Erzählung stirbt an einem Blutsturz. 21 Jahre danach erscheint Manns bedeutendster Roman „Der Zauberberg” [32], der „vordergründig” [37], was Ort der Handlung und handelnde Personen anbetrifft, weitgehend pneumologisch orientiert ist. Die letzte Berührung mit der Pneumologie ergab sich für den Dichter durch eine Atemwegserkrankung, die er 1946 - er war damals 70 Jahre alt - nur dank pneumologischer Diagnostik und thoraxchirurgischer Intervention [81] überlebte.
Einblicke in das Sanatoriumsleben hatte Thomas Mann an einigen Orten [82], doch in Hinsicht auf die Betreuung von Tuberkulosekranken vorwiegend bei einem vierwöchigen Besuch seiner in Davos zur Kur weilenden Ehefrau im Mai/Juni 1912 gewonnen [80] und mit dem Schreiben der geplanten Novelle, die sich zu dem Roman auswuchs, bald begonnen. Vieles kam dazwischen. Mehr als 12 Jahre waren vergangen, als der Dichter am 27. September 1924 unter das Manuskript sein FINIS OPERIS setzte. Da der Verlag große Teile des Romans bereits gedruckt hatte, konnte „Der Zauberberg” zwei Monate danach zweibändig dem Buchhandel ausgeliefert werden. Um längere Neuheit zu gewährleisten, trug der Roman das Editionsdatum 1925. Die ersten Auflagen waren schnell vergriffen [51] [90].
Am Ort der Handlung, in Davos, empfand man das Buch als unverdiente Heimsuchung. Bei den Davoser Ärzten habe „der Roman einen Sturm der Entrüstung” hervorgerufen” hieß es [28] und wir hören von einem Kritiker, der im Spätsommer 1925 in Davos weilte, von „der frischen Atmosphäre von Befremden und Empörung, Hohn und Schadenfreude, die das Buch über seinen Schauplatz heraufgeführt” [17] habe. Ein anderer schrieb, „Der Zauberberg” sei „das bestgehasste Buch in Davos selbst, weil der Arzt dort rückhaltlos und fast nur in seinen Schwächen gezeichnet” [15] würde. Durch „dieses neueste Lehrbuch für Laien über Tuberkulose und Davos” würden die sonderbarsten Ideen verbreitet; auch gebe der Roman „gewiss nicht einen Querschnitt der Davoser Ärzte” wieder. Die Heilstättenärzte gewöhnten sich daran, gefragt zu werden: Wie stellen Sie sich zum Zauberberg? Erlauben Sie den Kranken, das Buch zu lesen? Hat das Buch wirklich so viel geschadet? [3]. In vielen Behandlungsstätten stand das Buch für die Betroffenen auf einer Art Index; das heißt, den Kranken wurde das Lesen des Romans schlichtweg verboten. Doch lassen sich auch in Davos selbst Stellungnahmen wie diese finden: „Nirgends stößt der Roman auf solchen Widerstand, wie in Davos selbst”... „gerade diejenigen, die aus ihm eine Lehre ziehen sollten, verurteilen ihn am meisten” [69]. Bei aller Empörung ist nichts bekannt von einem akuten allgemeinen Protest, von einer lauten, ablehnenden Stellungnahme. Turban, der maßgebliche Tbc-Experte in Davos und ärztliche Leiter des nach ihm benannten Sanatoriums war nicht mehr im Amt; er wird mit seiner Kritik erst im August 1926 zu Wort kommen. Und dennoch: der Schauplatz Davos und die meisten der dort tätigen Ärzte waren entrüstet und blieben unversöhnt. Der Gram hielt sich lange [65].
Zur ärztlichen Negativkritik in Davos trug bei, dass der Autor mit Unverfrorenheit etlichen Romanpersonen Züge von Ärzten und Schwestern verlieh, die er und seine Frau in Davos kennengelernt hatten. Später sollte er das „Morde” nennen [40]. In erster Linie betraf das den Hofrat Behrens, den Klinikchef des Sanatoriums Berghof, mit dem viele den ärztlichen Leiter des Waldsanatoriums Davos, Professor Dr. Jessen (1865 - 1935), der mehr als zwölf Jahre zuvor Katia Mann betreut hatte, identifizierten. Viele mussten das Vorbild bei aller Verfremdung, die der Dichter vornahm, wiedererkennen [78]. Mag sein, dass bei den Familien Mann und Pringsheim eine gewisse Missstimmung verblieben war, und sie nicht mehr so recht an die therapeutischen Empfehlungen glaubten, die nicht nur Katia Mann, sondern auch dem Zwillingsbruder Klaus Pringsheim [21] und Thomas Mann selbst [38] zuteil geworden waren. „Davos ist ein Schwindel”, schrieb Hedwig Pringsheim [20] schon im Juli 1912, als ihre Tochter erst die Hälfte der ihr „aufgebrummten Monate” [35] in Davos verbracht hatte. Denkbar wäre auch, dass der Dichter sich aufgerufen fühlte, an den bestehenden Zuständen Kritik zu üben und „vor den moralischen Gefahren der Liegekur und des ganzen unheimlichen Milieus” [38] zu warnen.