Psychiatr Prax 2004; 31(6): 317-318
DOI: 10.1055/s-2004-831290
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Soziotherapie: Ein neuer Baustein in der psychiatrischen ambulanten Versorgung in Deutschland - Erste praktische Erfahrungen, Widerstände und Chancen

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Publication Date:
25 August 2004 (online)

 

In seinem Leserbrief (Psychiat Prax 2004; 31, 219) hat Felix M. Böcker aus Naumburg im Zusammenhang mit Daten aus der psychiatrischen Versorgung mit Heimplätzen festgehalten: "In Deutschland weiß eben niemand genau, was in der psychiatrischen Versorgung tatsächlich passiert."

Dies scheint uns im Bereich der, seit dem Jahr 2000, neu eingeführten "Soziotherapie" in einem besonders ausgeprägten Maße der Fall zu sein. Wir berichten deswegen hier über unsere Erfahrungen und Einschätzungen.

Bekanntlich ist im Reformgesetz der GKV aus dem Jahre 2000 die Soziotherapie eingeführt worden als eine neue Leistung im Rahmen der Krankenbehandlung schwer psychisch Kranker. Solche Leistungen sollen Versicherte in Anspruch nehmen können, mit dem Ziel dadurch Krankenhausbehandlung zu vermeiden oder zu verkürzen. Soziotherapie soll die Koordinierung ärztlich verordneter Leistungen ermöglichen sowie Anleitung und Motivation zu deren Inanspruchnahme fördern. Innerhalb von drei Jahren sollen 120 Stunden Soziotherapie möglich sein; ausführende Soziotherapeuten können Diplom-Sozialpädagogen und Sozialarbeiter sein, aber auch fachlich weitergebildete Krankenschwestern und Krankenpfleger.

Die Einführung dieser Soziotherapie ist nach unserer Kenntnis in Deutschland recht zögerlich verlaufen. Die Diskussion im veröffentlichen sozialpsychiatrischen Raum ist sehr dürftig. Es gibt eine Broschüre im Rahmen Schriftenreihe der Zeitschrift "Wege zur Sozialversicherung" (Soziotherapie von Frank Rosenthal, Asgard-Verlag Dr. Werner Hipp GmbH, Bildung und Praxis Nr. 126); im "Nervenarzt" ist im Jahr 2003 ein Artikel erschienen, wo aus der Sicht des Med. Dienstes der Krankenkassen das Gesetz erörtert wird und seine Möglichkeiten, aber insbesondere seine Begrenzungen dargestellt wird (R.-M. Frieboes, Nervenarzt 2003; 75: 596-600); ein Artikel im Nervenarzt aus 2004 stellt eine sehr kritische Sicht der Soziotherapie aus der Sicht eines Nervenarztes dar (R. F. Sonntag, Nervenarzt 2004; 3: 308-310). Auf dem Kongress der "Aktion psychisch Kranke" (ApK) im Jahre 2003 in Kassel wurde das Thema Soziotherapie nur in einigen Nebensätzen am Rande erwähnt. Wir haben erfahren, dass die ApK aber beauftragt sei, die Soziotherapie zu evaluieren. Ergebnisse sind bisher nicht, jedenfalls soweit uns ersichtlich, veröffentlicht worden.

Wir haben uns im Rahmen einer nervenärztlichen Gemeinschaftspraxis in einer südwestdeutschen Kleinstadt mit ländlicher Umgebung (34000 Einwohner, Einzugsgebiet ca. 1500000 Einwohner) frühzeitig dem Instrument der Soziotherapie im Rahmen der psychiatrischen Versorgung zugewandt. Wir führen hier eine nervenärztliche Gemeinschaftspraxis (3 Fachärzte), in der eine große Zahl psychisch Kranker ambulant versorgt wird (ca. 200 Patienten mit Diagnosen aus dem schizophrenen Formenkreis). Im regionalen Versorgungssystem (sozialpsychiatrischer Dienst, psychosozialer Förderkreis) sind wir seit vielen Jahren integriert, für andere beratend tätig. Da der Praxis, in Form der Mitautorin, eine sozialpsychiatrisch ausgebildete Krankenschwester nahe stand, hat diese schon im Jahre 2000 in Einzelabsprache mit der Krankenkasse auf entsprechende fachärztliche Verordnung soziotherapeutische Leistungen bei einem ersten Patienten erbracht. Im Jahre 2002 ist sie nach einem etwas komplizierten Verfahren als selbstständige Soziotherapeutin zugelassen worden, mit der Verpflichtung für alle Versicherten des Landkreises auf entsprechende Verordnung solche Leistungen zu erbringen (also auch für andere niedergelassene Psychiater). Seit dieser Zeit hat sie insgesamt 16 Soziotherapien bei entsprechend schwer psychisch Kranken begonnen bzw. durchgeführt und in zwei Fällen abgeschlossen. Die behandelten Patienten haben den Richtlinien entsprechend, jeweils Erkrankungen aus dem Bereich des schizophrenen Formenkreises, dabei meistens klassische Schizophrenien, einzelne schizoaffektive Psychosen, eine Patientin hat eine schizotype Störung mit begleitender Essstörung. Die Therapiestunden finden meistens 1-mal pro Woche statt. Je nach der persönlichen Situation des Patienten gibt es Gespräche in der Praxis, gemeinsame Spaziergänge, Besuche kultureller Einrichtungen, Hausbesuche mit praktischen Anleitungen und Unterstützungen, teilweise mit Einbeziehung der nahen Bezugspersonen. Die behandelten Patienten hatten vorausgehend lange stationäre Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen mit 3 bis über 10 stationären Episoden. Während der Soziotherapie ist bei 3 der 16 Patienten eine intermittierende stationäre Intervention notwendig geworden.

Über "Erfolge" der Soziotherapie lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur Vorläufiges feststellen. Für die Betroffenen besonders positiv scheint das große Zeitbudget, dass die Soziotherapeutin zur Verfügung stellen kann, verglichen mit der üblichen psychiatrischen Sprechstunde. Wichtig ist die Einbeziehung des häuslichen Umfelds durch Hausbesuche, Kontakt und Gespräche mit den Bezugspersonen. Die Integration der Soziotherapeutin im gemeindepsychiatrischen Verbund mit Kontakt zum sozialpsychiatrischen Dienst, mit den Mitarbeitern des betreuten Wohnens, der Tagesstätte und zur Werkstatt für psychisch Behinderte unterstützt ihre Möglichkeiten. Ganz besonders wichtig scheint die enge Rückkopplung der eigenen Erfahrungen mit den verordnenden und behandelnden Psychiatern. (Dies gilt nicht nur für den unterzeichnenden Autor, der ja der Ehemann der Soziotherapeutin ist, sondern auch für die anderen verordnenden Nervenärzte.) Nicht zuletzt dadurch konnte eine bessere Motivation für psychiatrische Behandlung, Einnahme von Medikamenten, Integration in eine Werkstatt und andere berufsfördernde Maßnahmen sowie neue Wohnmöglichkeiten erreicht werden. Durch Kriseninterventionen konnte in einigen Fällen stationäre Behandlung vermieden werden.

Widerstände gegen die Soziotherapie sind von mehreren Seiten festzustellen. Das Zulassungsverfahren gestaltet sich als schwierig mit der Begründung, dass dies eine Domäne des sozialpsychiatrischen Dienstes sei. Der Sozialpsychiatrische Dienst in unserer Region führt aber nur vereinzelt Soziotherapien durch und ist mit knapper Stellensituation keinesfalls in der Lage die allfälligen Anforderungen ausreichend auszuführen. Erhebliche Widerstände gibt es durch eine enge Auslegung der Richtlinien durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Während die regionalen Krankenkassen im direkten Gespräch sehr positiv auf die Verordnungen reagieren, sich auch in etlichen Referaten über die Soziotherapie informieren ließen, verhielten sich die Fachärzte in den Med. Diensten eher abweisend. Mehrfach wurden Soziotherapien im ersten Schritt abgelehnt, konnten aber zumeist im Widerspruchsverfahren dann doch durchgeführt werden.

Widerstände gibt es auch bei den niedergelassenen Nervenärzten. Wir verweisen hier auf den Artikel im "Nervenarzt" und auch auf entsprechende Leserbriefe im "Neurotransmitter", in dem Ärzte befürchten, dass in ihrem angestammten Revier "gewildert" würde. Widerstand sehen wir auch bei zentralen Organisationen der Sozialpsychiatrie. Wir haben den Eindruck, dass z.B. die Aktion psychisch Kranke, in der ja besonders viele leitende Personen aus stationären psychiatrischen Einrichtungen sind, diese neue Form in Kooperation mit den niedergelassenen Nervenärzten kritisch sieht, nicht fördert.

Wir dagegen halten den neuen Baustein gerade in der ambulanten psychiatrischen Versorgung für einen großen Gewinn für die betroffenen schwer psychisch Kranken. Insbesondere die Kooperation zwischen behandelndem Psychiater und Soziotherapeut ermöglicht Chancen, die andere Beteiligte (sozialpsychiatrische Dienste etc.) nicht in dieser Weise haben. Erstmals wird die seit Jahren beklagte fehlende Kooperation zwischen Niedergelassenen und anderen sozialpsychiatrisch Tätigen als gemeinsames Tun verankert. Außerdem halten wir es für sehr gut, dass durch das neue Instrument die Krankenkassen in der sozialtherapeutischen Versorgung regelhaft mit in die Pflicht genommen werden. Die Gefahr einer übermäßigen Ausdehnung soziotherapeutischer Leistungen vermögen wir überhaupt nicht zu erkennen. Durch den Gesetzgeber ist ja die Gruppe der dafür infrage kommenden Kranken sehr eingeschränkt; die zeitliche Begrenzung mit der Stundenzahl ist ebenfalls ein limitierender Faktor.

Zusammenfassend sind die 3-jährigen Erfahrungen aus der Sicht der verordnenden Nervenärzte sowie der behandelnden Soziotherapeutin positiv bezüglich Akzeptanz, wie der Durchführbarkeit, wie der möglichen Erfolge dieser Behandlung. Sie sollte allgemein ausgebaut werden. Durch die entsprechende Dokumentationspflicht der Soziotherapeutin sind günstige Möglichkeiten vorhanden, bald katamnestische Daten zu erhalten. Wir sind jetzt schon dabei unsere Daten zusammen zu stellen.

Dr. med. Friedrich Böhme 
 Petra Schmidt-Böhme 

Nervenärztliche Gemeinschaftspraxis

Rathausstraße 2

78532 Tuttlingen