Hebamme 2004; 17(3): 136
DOI: 10.1055/s-2004-833994
Editorial

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Bonding-Förderung im Alltag

Ulrike Harder
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Publication Date:
05 December 2006 (online)

Durch die Veröffentlichungen von Leboyer, Odent, Marschall, Kennell u.a. wissen wir, wie wichtig besonders die ersten zwei Lebensstunden (Bonding-Phase) für den Aufbau einer gesunden Mutter-Kind-Bindung sind. Erfreulicherweise haben etliche Hebammen und ärztliche Geburtshelfer in ihren Kliniken das postpartale Procedere Bonding-Förderlicher gestaltet. Leider wird in vielen Kliniken aber immer noch zu wenig auf diese wichtige Phase eingegangen, da die Umsetzung fälschlicherweise als nicht praktikabel, zu zeitaufwändig oder ärztlicherseits nicht erwünscht angesehen wird.

Darum möchte ich einige gelungene postpartale Vorgehensweisen schildern, die ich im Laufe meiner 24 Berufsjahre an verschiedenen Orten kennen und schätzen gelernt habe.

Das Neugeborene kommt sofort nach der Geburt auf den Leib der Mutter, hier kann es auf vertrautem Gebiet ausruhen und wird erst abgenabelt, wenn seine Atmung regelmäßig und die Nabelschnur auspulsiert ist. Oder das Neugeborene wird auf ein warmes Tuch gelegt, damit die aufrecht sitzende (oder aufgerichtet) Mutter es zu nächst in Ruhe betrachten und berühren kann. Erst wenn sie dazu bereit ist, nimmt sie ihr Kind selbstständig in die Arme. Das nackte Kind darf dann so lange warm zugedeckt auf der Haut seiner Mutter liegen, bis es nach der Brust gesucht und ausgiebig getrunken hat. Während das Kind bei der Mutter liegt, werden nur Atmung und Hautfarbe regelmäßig kontrolliert. Erst nach dem Anlegen, d.h. nach 1-2 Stunden, erfolgen Messen, Wiegen und die U1. Dieser Ablauf ist auch in der Klinik praktikabel, denn die erhobenen Daten lassen sich kurz vor der Verlegung schnell in die zwischenzeitlich geschriebene Papier- und Computerdokumentation einfügen. Muss ein Kind sofort von der Mutter getrennt werden (z.B. wegen Sectio oder zur Versorgung auf dem Reanimationstisch), wird es sobald wie möglich nackt bzw. mit einer Windel bekleidet zwischen die Brüste der Mutter gelegt. So können beide warm zugedeckt ausgiebig Hautkontakt haben und die Bonding-Phase nachholen. Wenn die Mutter stillen möchte, bekommt das Kind keine orale Vitamin-K-Gabe, bevor es nicht ausgiebig an der Brust gesaugt hat. Da die ersten Sinneseindrücke im Gehirn gespeichert werden und orientierend für die weitere Wahrnehmung sind, sollte sich als erstes nicht der unangenehme Geschmack des Konakions®, sondern der des mütterlichen Kolostrums einprägen (außerdem kann das fettlösliche Vitamin K zusammen mit dem Kolostrum viel besser aufgenommen werden).

Wie euphorisierend der erste Hautkontakt mit dem Neugeborenen auch auf den Vater wirken kann, erlebte ich bei meiner letzten Wochenbettbetreuung.

Nach Geburtseinleitung wegen pathologischem CTG, Geburtsstillstand und mangelhaft wirkender Periduralanästhesie hatte die Mutter eine Sectio in Vollnarkose bekommen. Als wir einige Tage später zu Hause die Geburtsumstände besprachen, wurde deutlich, wie stark die Mutter noch darunter litt, dass sie sich an die erste Stunde nach der Geburt gar nicht erinnern konnte, während der Vater rundum glücklich war. Er schilderte, wie ihn die Hebamme ohne T-Shirt auf das Bett bat und ihm seine Tochter nackt auf die Brust legte. Diesen überraschenden Hautkontakt mit seinem Kind hatte er über 30 Minuten in vollen Zügen genossen, während seine Frau in Vollnarkose im OP lag. Dieses Erlebnis versetzte ihn für lange Zeit in eine noch nie da gewesene Hochstimmung, obwohl er ein etwas schlechtes Gewissen hatte - schließlich hätte diese Belohnung doch seiner Frau nach der langen Geburtsarbeit zugestanden. Die Mutter konnte zu Hause ihre verpasste Bonding-Phase durch ausgiebigen Hautkontakt mit ihrer Tochter etwas nachholen und stabilisierte sich zusehends.

Ich freue mich sehr, dass wir so viele AutorInnen mit interessanten Beiträgen zum Thema Mutter-Kind-Bindung gewinnen konnten. Viel Spaß beim Lesen wünscht

Ulrike Harder

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