Erfahrungsheilkunde 2004; 53(12): 745-754
DOI: 10.1055/s-2004-834443
Nachlese

Karl F. Haug Verlag, in: MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Nachlese zur 38. Medizinischen Woche in Baden-Baden

Leitthema: Der chronisch kranke Patient
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Publication Date:
21 December 2004 (online)

Der chronisch kranke Patient - Vorteile der Naturheilkunde und der Erfahrungsmedizin

Dr. med. Dr. rer. nat. Dipl.-Phys. E. Dieter Hager, Bad Bergzabern

Die medizinischen Herausforderungen der gegenwärtigen Medizin bestehen immer weniger in der Therapie akuter Krankheitszustände, sondern vielmehr in der Behandlung und Betreuung chronisch Kranker und geriatrischer Patienten. Das Leitthema der 38. Medizinischen Woche in Baden-Baden stand in diesem Jahr daher unter dem Motto „Der chronisch kranke Patient”.

Was versteht man nach formalistischen Kriterien unter einem chronisch kranken Patienten?

Als chronisch krank werden gesetzlich Krankenversicherte angesehen, die wenigstens ein Jahr lang - mindestens einmal pro Quartal - ärztlich behandelt wurden (so genannte Dauerbehandlung) und außerdem eines der folgenden Merkmale vorhanden ist:

  • Es liegt Pflegebedürftigkeit der Pflegestufen II oder III vor.

  • Der Versicherte ist schwer behindert mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 60 oder er ist

  • zu mindestens 60 % erwerbsgemindert.

Es ist eine kontinuierliche medizinische Versorgung erforderlich, ohne die nach ärztlicher Einschätzung eine lebensbedrohliche Verschlimmerung (oder eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität aufgrund der ständig behandlungsbedürftigen Gesundheitsstörung) zu erwarten ist.” (Definition des „Gemeinsamen Bundesausschusses”)

Dr. med. Dr. rer. nat. E. Dieter Hager, 1. Vorsitzender der Ärztegesellschaft für Erfahrungsheilkunde e.V.

Der Gemeinsame Bundesausschusses befasst sich in diesem Zusammenhang zurzeit mit verschiedenen strukturierten Behandlungsprogrammen (Disease-Management-Programmen):

  • Diabetes Typ 1 und 2

  • Brustkrebs

  • Koronare Herzerkrankung

  • Asthma und chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen

Gerade bei den chronischen Erkrankungen und in der Geriatrie spielt die Naturheilkunde eine besondere Rolle, was insbesondere die Verträglichkeit, die Akzeptanz bei den Patienten und die Kosten anbelangt. Wenn die klassische Medizin von dem pathogenetischen Prinzip der Kuration geprägt ist, so basiert die Naturheilkunde im Wesentlichen auf dem salutogenetischen Prinzip, also dem individuellen, ganzheitlichen Entwicklungsprozess von Gesundheit. Moderne medizinische Versorgungskonzepte lassen sich immer weniger in Kuration und Rehabilitation auftrennen, sondern Prävention, Kuration, Rekonvaleszenz und Rehabilitation sind eine natürliche medizinische Leistungseinheit, die die Aufgaben der Gegenwart besser erfüllen als die reine „Heilbehandlung”. Die gesundheitspolitischen Reformen bewirken aber genau das Gegenteil. Die Rationierungen im ambulanten Bereich und die Verkürzung der Liegezeiten in den Krankenhäusern ermöglichen keine Rekonvaleszenzphase mehr im Anschluss an eine akute Behandlung, und die großen Errungenschaften der Naturheilkunde und der Rehabilitation werden als „Luxusmedizin” abgeschafft.

Wenn wir der ganzheitsmedizinischen Behandlung und Betreuung chronisch Kranker nicht mehr Beachtung schenken, werden wir die Herausforderungen im Gesundheitswesen in der Zukunft weder medizinisch noch ökonomisch meistern. Und wenn wir weiterhin mit demselben technischen und pharmazeutischen Anspruch wie bisher an die Lösung der chronischen Krankheiten und der Behandlung geriatrischer Fälle herangehen, wie bei der Behandlung akuter Krankheiten, werden wir medizinisch, ethisch und wirtschaftlich scheitern.

Die Kostensituation stellt sich heute ungefähr so dar:

  • Auf lediglich 10 % der Versicherten fallen 70 % der Ausgaben in allen Leistungsbereichen.

  • Ca. ⅓ der „Medicare”-Auszahlungen pro Jahr sind für 6 % der Versicherten, die in dem entsprechenden Jahr sterben.

Wir werden die Herausforderung des Gesundheitswesens weder durch noch mehr Reglementierungen von Bürokraten, Technokraten und Theoretikern noch durch mehr Bürokratie oder Reduzierung der Liegezeiten, Zuzahlungen, Kopfprämien etc. lösen, sondern nur durch eine Neuorientierung in der Behandlung von Krankheitsständen der Gegenwart und der Zukunft. Dazu gehört eine Umorientierung in den Behandlungszielen und Methoden. Gerade die naturheilkundlich orientierte Medizin mit ihrem ganzheitsmedizinischen Therapieansatz könnte dazu beitragen, die Kosten im Gesundheitswesen zu senken, die ansonsten infolge der demografischen Entwicklung und der damit verbundenen Änderung der Morbiditätscharakteristik und des medizinischen Fortschritts weiter steigen werden.

Wichtig ist die medizinische Begleitung von chronisch kranken Menschen mit dem Ziel, hinreichend Lebensqualität zu sichern. Anders werden wir die damit verbundenen Mehrkosten nicht in den Griff bekommen, ohne dass wir die soziale Demontage unseres bisher weltweit vorbildlichen Gesundheitssystems weiter vorantreiben.

Macht sich denn keiner Gedanken darüber, warum ausgerechnet die Krankenversicherer (sowohl GKV als auch PKV), die naturheilkundliche Methoden für ihre Versicherten bezahlen, die geringsten Beitragssätze haben? - Ist es nicht geradezu pervers, wenn die Gesundheitspolitiker aus rein juristischen Gründen das gesamte Paket der naturheilkundlichen Mittel und Methoden aus der Erstattung herausnehmen (von den nachträglichen Ausnahmen abgesehen), um die überwiegend interessensgesteuerten Pseudoinnovationen in der Medizin von den gesetzlichen Krankenkassen - die natürlich bei den hohen Kosten besser „evidenzbasiert” sein können - weiterhin erstatten zu können? - Mit jeder Gesundheitsreform wird die Zweiklassenmedizin in Deutschland immer mehr ausgeweitet. Es ist kaum zu glauben, dass in anderen Ländern, wie z.B. selbst in den USA, komplementäre und alternative Methoden in der Medizin zunehmend erforscht und an den medizinischen Hochschulen gelehrt werden, während in Deutschland diese Methoden immer mehr ausgeklammert werden.

Der Ausschluss der meisten komplementären Methoden aus der Erstattung der gesetzlichen Krankenkassen wird meist damit begründet, dass diese Methoden und Arzneimittel eine umstrittene Wirksamkeit hätten, da sie nicht ausreichend evidenzbasiert seien, was in Deutschland bedeutet, dass Metaanalysen GCP-konformer randomisierter Studien fehlen oder mangelhaft sind. Vor allem Technokraten, Bürokraten und jüngere Wissenschaftler überschätzen die Bedeutung randomisierter kontrollierter Studien total. Man hat geradezu den Eindruck, als ob sie sich damit selbst in den Olymp der reinen Wissenschaft erheben möchten.

Ist diese einseitige Festlegung des Wirksamkeitsbegriffs überhaupt gerechtfertigt?

  1. Gut durchgeführte Beobachtungsstudien führen zu keiner Überschätzung der Wirksamkeit einer Methode oder eines Arzneimittels.

  2. Die für randomisierte Studien erforderliche Homogenität der Gruppen ist besonders bei chronisch Kranken nicht erfüllt.

  3. Signifikanzniveau ist nicht gleich Wirksamkeit: Die Signifikanz (z.B. p < 5 %) einer Studie entspricht nicht der Irrtumswahrscheinlichkeit - wie so häufig angenommen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei einem Studienergebnis um ein Zufallsergebnis handelt, liegt nicht etwa bei 5 %, wie generell angenommen, sondern zwischen 10 (sehr selten) und 40 % (häufig).

Die Vertreter in den Ausschüssen, die nur evidenzbasierte Medizin Grad I als einziges Zulassungskriterium für eine Methode oder ein Arzneimittel für die Kostenerstattung durch die GKV anerkennen (Gemeinsamer Bundesausschuss), sind letztendlich Lakaien der großen Pharmakonzerne, da sich nur diese wegen der zu erwartenden hohen Umsätze für patentierte, innovative Arzneimittel die extrem hohen Kosten für GCP-konforme randomisierte kontrollierte Studien leisten können. Wir müssen uns dann nicht wundern, dass den Patienten Jahr für Jahr immer mehr Arzneimittel vorenthalten werden und die Krankenversicherer für den Rest immer mehr bezahlen müssen.

Ausbaden müssen dies die Versicherten und besonders die Kranken, die diese innovativen Medikamente bezahlen müssen, oder denen sie wegen der hohen Kosten gar vorenthalten werden und denen gut verträgliche Arzneimittel, die deshalb nicht verschreibungspflichtig sind, von der Kostenerstattung ausgeklammert werden. Ist es nicht geradezu grotesk, wenn die Gesundheitsministerin wegen Einsparungen im Gesundheitswesen in diesem Jahr gelobt wird, die zu einem Drittel auf Kosten der Kranken in Form von Zuzahlungen zurückzuführen sind. Gerade die chronisch Kranken können sich das am allerwenigsten erlauben.

Was die Chronikerprogramme anbelangt, so werden sich nach Berechnungen der Techniker Krankenkasse die zusätzlichen Verwaltungskosten in den Jahren 2003 bis 2005 auf insgesamt 529 Millionen Euro belaufen. Wenn es um die Bürokratie geht, sind wir immer absolute Weltmeister. Wir müssen die „Kunst des Heilens” wieder in den Vordergrund stellen, wie es der weltbekannte amerikanische Arzt und Friedensnobelpreisträger Bernard Lown in seinem Buch „Die verlorene Kunst des Heilens - Anstiftung zum Umdenken” mit einer Fülle von lebendig erzählten Fallbeispielen, Anekdoten und Episoden als Arzt und weltbekannter Wissenschaftler eindrucksvoll beschreibt.

Dr. med. Thomas Scherb, Geschäftsführer der Medizinverlage Stuttgart, begrüßte die Kongressteilnehmer im Namen des Karl F. Haug Verlags Patrick J. Mansky, M.D., überbrachte Grußworte des National Center for Complementary and Alternative Medicine, National Institutes of Health, und sprach über gemeinsame Wege zur Komplementärmedizin in den USA und Europa Dr. med. Rüdiger Dahlke hielt die mit Spannung erwartete, inspirierende Festansprache „Krankheit als Sprache der Seele”

Literatur

  • 01 Beck-Bornholdt H-P, Dubben H-H. Der Hund, der Eier legt. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Und: Der Schein der Weisen. Hoffmann und Campe. Und darauf aufbauend mehrere Artikel im Deutschen Ärzteblatt 2004 und in der EHK 7/2004
  • 02 Heart Protection Study Collaborative Group . Effects of cholesterol-lowering with simvastatin on stroke and other major vascular events in 20 536 people with cerebrovascular disease or other high-risk conditions.  Lancet. 2004;  363 757-67