PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(1): 98
DOI: 10.1055/s-2004-834655
Resümee
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schmerz - eine Herausforderung für Psychotherapeuten

Jochen  Schweitzer, Hanne  Seemann
Further Information

Publication History

Publication Date:
24 March 2005 (online)

Schmerz kann für Psychotherapeuten eine Eintrittskarte in vergleichweise neuartige, ungewohnte Arbeitsfelder darstellen - in denen sie Patienten (zumeist) ohne psychologisches Krankheitsverständnis dennoch mit psychologischen Methoden wirksam helfen können. Dort trifft man auf andere als die vertrauten Kooperationspartner - z. B. auf Narkoseärzte und Zahnärzte, an die man früher kaum einen psychosomatischen Gedanken verwendet hätte.

Fraglich ist aber, ob viele von uns Psychotherapeuten in dieses Arbeitsfeld hinein wollen. Man muss sich offensichtlich tief in neurophysiologisches Denken hineinbegeben. Man muss offensichtlich „Schmerzedukation” betreiben können - selbst z. B. als Tiefenpsychologe. Fast keiner unserer Autoren mochte auf einen Exkurs in die Psychophysiologie des Schmerzes verzichten. Offensichtlich haben sich alle mit dem neurophysiologischen Denken, insbesondere in seiner „Plastizitätsvariante”, eine gemeinsame Basisargumentation zugelegt, die an die Grundlagenforschung anzuschließen versucht.

Dabei droht der bisherigen Art, Psychotherapie zu praktizieren, möglicherweise Erschütterung. Man kann die letzten Passagen der Beiträge von Miltner/Weiss und von Flor, in denen es um Studien zum Phantomschmerz geht, als Andeutung auffassen, dass künftig eine ganz andere Art psychologischer Schmerztherapie angesagt sein wird - eine, die mit Elektrostimulation, neuartigen Prothesen und selektivem Schmerzerinnerungstraining jene Regionen des Gehirns neu stimuliert, in denen die Schmerzempfindung kreiiert wird - die also zu einer Neuropsychotherapie werden könnte, die Gehirnfunktionen nachhaltig zu verändern versucht. Manche dieser lernorientierten Behandlungsweisen könnten der bisherigen Ergotherapie oder einem Trainingslabor ähneln.

Den übungsorientierten Verfahren wie Biofeedback, Reizdiskriminationstraining und Entspannungstrainings stehen Verfahren gegenüber, die die biografische Sinnsuche und das Hervortretenlassen unterdrückter Affekte fördern. Und auch sie scheinen zu wirken.

Der eigentlich Dissens liegt in der Frage, ob chronifizierter Schmerz sinnlos und unnötig ist oder Ausdruck von Affekten, die sich bislang noch nicht besser artikulieren konnten. Die systemischen und hypnotherapeutischen Konzepte scheinen zwischen den Polen „Trainieren” und „Aufdecken” zu stehen. Sie suchen nach interpersonellen oder intrapsychischen „positiven Umdeutungen” und verbinden diese, im Sinne von Erfahrungslernen, eher mit konkreten Vorschlägen zum „Ausprobieren” denn mit konkreten Übungsplänen.

Welche „Dosis” an psychologischer Schmerztherapie brauchen Schmerzpatienten? Die Familienberatungen in drei Sitzungen bei „einfachen” Kinderkopfschmerzen stellen die kürzeste hier beschriebene Form dar. Viele der multimodalen Gruppenprogramme umfassen oft zwischen acht und zwölf Sitzungen. Hier ist die gegenseitige Nutzung der Expertise der Gruppenmitglieder sowie die „Straffung des Prozesses” durch rasche Psychoedukation ein wesentliches Erfolgsrezept. Beide Ansätze werden künftig möglicherweise in der Multi-Familien-Therapie, einer Kombination von Gruppen- und Familientherapie, ihr Potenzial vereinigen können. Die beschriebene tiefenpsychologische Therapie bei einem sehr schwer geplagten und chronifizierten Patienten kommt mit etwa 60 Einzelsitzungen auf einen akzeptablen Umfang.

In der Forschung zeigt sich wie erwartet: An den vielen verhaltenstherapeutisch besetzten Lehrstühlen wird erfolgreich nachgewiesen, dass Verhaltenstherapie auch bei vielen Schmerzen erfolgreich ist. Interessanterweise hat aber eine in den Universitäten eher randständige Therapierichtung wie die Hypnotherapie ebenfalls eine respektable Menge guter Studien speziell zur Schmerztherapie angehäuft. Es bleibt abzuwarten, ob die systemische Therapie (die anders als etwa zur Sucht, zu den Essstörungen, zu den affektiven Störungen in diesem Bereich bislang keine Outcomestudien vorlegt), die Tiefenpsychologie und die humanistischen Therapien hier nachziehen werden. Der geplante Förderschwerpunkt Psychotherapieforschung des Bundesministerium für Bildung und Forschung wäre ein guter Ort, um diesen Forschungsrückstand rasch nachzuholen.

Am Ende stellen sich uns zwei Fragen, die man gut beforschen könnte:

Wie erfolgreich erweisen sich sinnsuchende, erlebnisorientierte und sozialsystemische Psychotherapieansätze, wenn man sie in Bezug auf Schmerzen akademisch ebenso umfangreich evaluiert wie Verhaltenstherapie und Hypnotherapie? Wie viele Anästhetika könnten in Deutschland eingespart werden, wenn man mehr hypnotherapeutisch vorgebildete Ärzte und Zahnärzte, aber auch mehr hypnotherapeutisch vorgebildete Patienten wie Bernhard Trenkle hätte?