PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(1): 117-119
DOI: 10.1055/s-2004-834667
Im Dialog
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Neurochirurgie bei Zwangs- und Angstneurosen?

Helmut  Thomä, Jürgen  Aschoff, Franz  Rudolf  Faber, Hermann  Lang, Ulrich  Streeck
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Publication Date:
24 March 2005 (online)

Neurobiologische Grundlagenforschung und biologistische Wende in der Psychiatrie

Der enorme Aufschwung der neurobiologischen Grundlagenforschung in den vergangenen Jahren hat die Diskussion über das Leib-Seele-Problem auf hohem Niveau zwischen repräsentativen Hirnforschern und Geisteswissenschaftlern belebt (Geyer 2004). In der Zeitschrift „Gehirn & Geist” haben vor kurzem elf führende Repräsentanten der deutschen Hirnforschung ein „Manifest” (Monyer u. Mitarb. 2004) veröffentlicht, das im Vergleich zu den im Buch von Geyer abgedruckten Kontroversen zwischen Hirnforschern, Geistes- und Sozialwissenschaftlern sowie Juristen moderate Töne anschlägt. Die großen Fragen bezüglich der Vorstellung des freien Willens und des Selbstbewusstseins seien trotz aller Fortschritte der Neurobiologie noch lange nicht, wenn überhaupt, zu beantworten. Der Psychologe Wolfgang Prinz, Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in München, der das „Manifest” nicht unterschrieben hat, kommt mit einem Sondervotum zur Sprache. Er hält den Hirnforschern vor, dass sie inkonsistent argumentieren: Die Neurobiologie tauge als neue Leitdisziplin der Humanwissenschaften nicht.

Die „Rückkehr der Psychochirurgie”, über die Albrecht (2004) unter diesem Titel berichtet, vollzieht sich auf einer viel niedrigeren Ebene, nämlich auf jener, die als biologistische Wende der Psychiatrie bezeichnet werden muss. Zugleich sind die heutigen stereotaktischen Operationen und die Implantation von „Hirnschrittmachern” ein großer Fortschritt gegenüber den Lobo- und Leukotomien der Anfangszeit.[1] Unter Berufung auf den amerikanischen Medizinhistoriker Ed Shorter spricht Albrecht von der „berüchtigten Lobotomie”, die über lange Zeit an zehntausenden psychisch Kranken, oft mit katastrophalem Ausgang, praktiziert worden sei (zur Geschichte der Psychochirurgie s. Adler u. Saupe 1979). Dass stereotaktische Operationen der modernen Neurochirurgie, die mit der Lobotomie nichts gemeinsam haben, auf Vorbehalte stoßen und sich Neurochirurgen wie Sturm nach kollegialer Einschätzung auf „verbrannter Erde” bewegen, ist also nicht verwunderlich. Schon die Bezeichnung „Psychochirurgie” fordert zum Widerspruch heraus. Sie ist durch ihre Geschichte belastet und hat in mancher Hinsicht selbst ihre „Erde verbrannt”. In unserem Land hat übrigens seinerzeit, als die Psychochirurgie bei Sexualstraftätern zur Diskussion stand, eine Kommission des Bundesgesundheitsamtes ärztliches und ethisches Augenmaß bewiesen (Fülgraff u. Barley 1978, Ehebald 2004).

Literatur

1 Einer von uns (H. T.) hatte am Anfang seiner Facharztausbildung in den späten 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine unvergessliche Erfahrung mit einem radikal leukotomierten Patienten, der als Soldat seinen rechten Arm verloren und einen Phantomschmerz entwickelt hatte. Postoperativ persistierte der unerträgliche Schmerz. Wegen einer nun zusätzlich bestehenden Hirnleistungsschwäche konnte der Patient sein Studium nicht fortsetzen; verzweifelt suizidierte er sich.

2 Wir haben stets eine neurotische Psychopathogenese im Sinn, auch wenn wir dem scheinbar theoriefreien Sprachgebrauch des DSM folgen und synonym von Angst- und Zwangsstörungen sprechen.

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Helmut Thomä

Funkenburgstraße 14

04105 Leipzig

Email: thomaeleipzig@aol.com