Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(47): 2559-2560
DOI: 10.1055/s-2004-835305
Leserbriefe

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zur zukünftigen Perspektive der Universitätskliniken - Erwiderung

Zum Beitrag aus DMW 27/2004
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Publication Date:
15 November 2004 (online)

Beide Punkte des dankenswerten Leserbriefes des Kollegen Eggerth zu meinem Kommentar [1] erfordern eine etwas ausführlichere Erläuterung, um die wahrgenommenen Unschärfen aufzuklären.

Zu Punkt 1: Es besteht nicht nur ein semantischer, sondern auch ein inhaltlicher Unterschied zwischen Ursache und Anlass. Wenn wir die zugrunde liegende Ursache von Krankheitskosten adressieren wollen, ist dies noch nicht einmal der Patient als Person, wie Eggerth meint, sondern dessen Erkrankung als pathophysiologisches Moment, das seinerseits aber noch kein ökonomisches oder fiskalisches Korrelat enthält. Erst die Intervention des Arztes bzw. der Eintritt in ein System, in dem Versorgungsleistungen abgefragt werden, führt zur Realisierung von Kosten. Anders, plakativer ausgedrückt: beim Eremiten, der alleine leidet und in der Höhle seiner Erkrankung erliegt, entstehen der Sozialgemeinschaft keine Kosten. Insofern ist es nur logisch, den Arzt als Veranlasser von sozialversicherungsrelevanten Kosten zu identifizieren und ihm dadurch auch die Verantwortung zu übertragen. Um es hier auch nochmals zu betonen: Die Qualität der ärztlichen Urteilskraft ist der Schlüssel zur Effizienz direkter und indirekter Krankheitskosten.

Dass der medizinische Fortschritt die Hauptursache für Kostensteigerungen sei, wird allgemein gerne geglaubt, es liegen allerdings keine Daten zur Untermauerung dieser Hypothese vor. Zunächst muss man sich über die Definition von „Fortschritt“ einig werden. Ökonomisch ist immer dann von Fortschritt die Rede, wenn das Verhältnis von „Input“ zu „Output“ durch eine Maßnahme, ein Produkt oder ein Verfahren verbessert wird. Im Spannungsfeld von Medizin, Ökonomie und Ethik sollte von Fortschritt die Rede sein, wenn

bessere klinische Ergebnisse mit dem gleichen oder gar geringeren Aufwand erreicht werden können, oder wenn gleiche klinische Ergebnisse mit geringerem Aufwand erreicht werden.

Gleiche Ergebnisse mit gleichem oder höherem Aufwand oder bessere Ergebnisse mit höherem Aufwand prägen dagegen die Wahrnehmung von Fortschritt in der Medizin, obgleich es sich per definitionem um „Pseudofortschritt“ handelt. Daten und Studien fehlen allerdings hierzu. Unbestritten ist, dass es Innovationen gibt, die zu einer signifikanten Senkung von Behandlungs- und Folgekosten führen. Hierzu liegen seit mehreren Jahren gesicherte Daten vor (zum Beispiel [2]).

Eine ähnliche, kommentierungswürdige Unschärfe unterläuft Eggerth in der Referenz auf das britische National Health System (NHS). Wiewohl der Autor ein Verfechter eines weitgehend liberalisierten Gesundheitsmarktes ist und staatlichen Lösungen große Skepsis entgegenbringt, entbehren die hierzulande gerne argumentativ genutzten Horrorszenarien aus dem Vereinigten Königreich einer substantiellen Grundlage. Die in England seit über 10 Jahren geführte Rationierungsdebatte kann hier nicht erschöpfend wiedergegeben werden [3]. Es sei aber darauf hingewiesen, dass es eine altersbezogene Vorschrift zur Vorenthaltung notwendiger medizinischer Leistungen im gesamten NHS nicht gibt. Die nominale Rationierung durch lange Wartelisten bei der elektiven Hüftchirurgie, auf die sich Eggerth wohl beziehen mag, ist als mögliches Organisationsversagen einzelner Regionalorganisationen identifiziert worden, die auf keinen Fall verallgemeinert werden sollten [4].

Zu Punkt 2: Der Kommentar von Eggerth bedarf auch hier einer Erläuterung. Das interne Gleichgewicht von Lehre, Forschung und Krankenversorgung hat sich in den letzten Jahrzehnten in den deutschen Universitätskliniken massiv hin zur Krankenversorgung verschoben. Der Betrieb eines Großklinikums der Maximalversorgung steht ganz im Vordergrund und droht, die übrigen wichtigen Aktivitäten zu majorisieren. Das ist tägliche Erlebenswirklichkeit sowohl der Universitätsärzte, die unter der klinischen Routine erdrückt werden, als auch der Studenten, die bei der Priorisierung der Allokation begrenzter Ressourcen meistens den Kürzeren ziehen. Bei einem gemeinsamen Ressourcen-Budget (finanziell, personell, räumlich), das die drei Sektoren eines Universitätsklinikums miteinander verwebt, muss die Expansion des einen Bereichs auf Kosten der beiden anderen erfolgen. Die abnehmende wissenschaftliche und didaktische Qualität der deutschen Universitätsmedizin, die allenthalben beklagt wird, ist die Folge, die wiederum (s. o.) noch erhebliche Kupplungseffekte hinsichtlich kosteneffizienten ärztlichen Entscheidungsverhaltens vermuten lässt.

Der Autor plädiert für eine drastische Entlastung der Universitätskliniken von der Routine und eine Konzentration auf die Kernkompetenzen der wissenschaftlichen und experimentellen Medizin auf der breiten Basis eines Netzwerks akademischer Lehreinrichtungen (d. h. Krankenhäuser und Praxen). Dies muss natürlich auch Kapazitätsanpassungen nach sich ziehen und erfordert eine Neuorganisation der Ausbildungswege. Diese Reorganisation „von oben“ hat allerdings das Potential, einen Dominoeffekt auszulösen, der zu einer erheblichen Effizienz- und Qualitätssteigerung in der gesamten klinischen Medizin in Deutschland führen könnte.

Literatur

  • 1 Schönermark M P. Zur zukünftigen Perspektive der Universitätskliniken.  Dtsch Med Wochenschr. 2004;  129 1524-1525
  • 2 Murphy S. Does new technology increase or decrease health care costs?.  J Health Serv Res Policy. 1998;  3 215-218
  • 3 Frankel S, Ebrahim S, Smith G D. The limits to demand for health care.  BMJ. 2000;  321 40-45
  • 4 Martin R M, Sterne J AC, Gunell D, Ebrahim S, Smith G D, Frankel S. NHS waiting lists and evidence of national or local failure: analysis of health service data.  BMJ. 2003;  326 188-198

Univ.-Prof. Dr. med. Matthias P. Schönermark

Abteilung für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover