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DOI: 10.1055/s-2004-835830
„Ihr glücklichen Augen” - Ingeborg Bachmann und die Psychosomatische Medizin
Publication History
Publication Date:
07 December 2004 (online)
Zusammenfassung
Ingeborg Bachmann (1926 - 1973) setzte sich essayistisch wie poetisch mit der Psychosomatik Georg Groddecks auseinander. Besonders die späte Erzählung „Ihr glücklichen Augen” greift leitmotivisch seine unorthodoxe Deutung der optischen Sehschwäche als kreative Verdrängungsleistung auf: In ihrer Ambivalenz, die Brille ab- oder aufzusetzen, schwankt die Protagonistin konkret und symbolisch zwischen Realitätsabblendung und -wahrnehmung. Im Kontrast hierzu stehen frühe Essays von Bachmann, welche die Metapher des Sehens nutzen, um emphatisch die reine Wahrheitssuche zu unterstreichen. Dieser Wandel im Denken korrespondiert mit biographischen Zäsuren. Die psychosomatische Sichtweise, die sie bei Groddeck hervorhebt, geht auf Nietzsches Lebensphilosophie zurück. Er propagiert die Horizontabblendung in der Spannung zwischen Wahrheit und Leben, in der auch heute noch psychosomatische Deutungen der unbewussten Organsprache stehen.
Abstract
Ingeborg Bachmann (1926 - 1973) dealt with the psychosomatic medicine of Georg Groddeck in her essayistic and poetic works. Particulary the late novel „Happy Eyes” takes up his unorthodoxal interpretation of the optic ambylopia using the creative performance of suppression as its central motive: The female protagonist is ambivalent in putting on or taking off her glasses which demonstrates in a concrete and symbolic way that she alternates between denying and perceiving reality. In opposite to this, early essays of Bachmann use the metaphor of sight to emphazise the pure search of truth. This change of mind corresponds to biographic breaks. The psychosomatic view, which she underlines in the work of Groddeck, recurres to the philosophy of life of Nietzsche. He propagates the limitation of horizon reflecting the tension between truth and life, in which also nowadays psychosomatic interpretations of the unconsicous speech of organs are involved.
Literatur
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1 Die Erzählung ist untertitelt: „In memoriam Georg Groddeck”.
2 Sie schrieb weiterhin Essays über die damals noch wenig bekannten österreichischen Denker Ludwig Wittgenstein und Robert Musil, welche die Kritik, die sie in ihrer Dissertation zu Martin Heidegger an der scheinbaren Gewissheit philosophischer Sinnvorgaben geäußert hatte, systematisch fortsetzen und dagegen die utopische Möglichkeit einer mystischen Wahrheit andeuteten. Vgl. Bachmann, I. Essays. Werke Bd. 4, München: 1978: S. 12-23, 80-127 und Bormuth, M. Utopie und Sprache bei Ingeborg Bachmann. Parapluie. Elektronische Zeitschrift für Kulturen, Künste, Literaturen; Heft 19. 2004.
3 Man geht davon aus, dass eine Zigarette versehentlich den Wohnungsbrand verursacht hat. „Die glücklichen Augen” enthält auch einen Passus, der diese Möglichkeit in der Fiktion vorwegnimmt. Nach Angaben von Freunden soll Bachmann wie Miranda öffentlich oft bewusst hilflos gewirkt haben: „Sie könnte Messen lesen lassen für alle Autofahrer, die sie nicht überfahren haben, dem hlg. Florian Kerzen stiften für jeden Tag, an dem ihre Wohnung nicht abgebrannt ist, wegen der angezündeten Zigaretten, die sie weglegt, sucht und dann gottlob findet, wenn auch schon ein Loch in den Tisch gebrannt ist.” Vgl. Bachmann, I. Ihr glücklichen Augen. Werke Bd. 2, München: 1978: S. 354-373, S. 360.
4 Bachmann soll als weibliche Figur Lila in Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein” eingegangen sein. Zur kritischen Darstellung der vermuteten Zusammenhänge vgl. Eberhardt, J. „Es gibt für mich keine Zitate”. Intertextualität im dichterischen Werk Ingeborg Bachmanns, Tübingen: 2002: S. 364-368.
5 Vgl. Bräutigam W, Christian P. Klinische Psychotherapie bei psychosomatischen Krankheiten. Der Nervenarzt 1961; 32: S. 347-354, S. 351f. Die Autoren relativieren z. B. Mitscherlichs Wiesbadener Postultat des psychophysischen „Simultangeschehens”, bei dem beispielsweise sprachliche Ausdrücke wie „unter einem Druck stehen” als Deskriptionen psychischer Zustände mit dem Phänomen des Bluthochdrucks suggestiv korreliert werden.
Dr. Matthias Bormuth
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Universität Tübingen
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