Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(51/52): 2757-2765
DOI: 10.1055/s-2004-836108
Weihnachtsheft

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sünder und Selige

Biblische Gestalten und christliche Heilige in der modernen MedizinSinners and saintsBiblical heroes, Christian patrons, and present-day medical terminologyA. Karenberg1
  • 1Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
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Publikationsdatum:
16. Dezember 2004 (online)

Zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Fachsprache

Seien wir in der Weihnachtszeit einmal ehrlich zu uns selbst. Wer wüsste spontan zu sagen, was die heutige Heilkunde noch mit dem Alten und Neuen Testament oder den Erzählungen des mittelalterlichen Christentums verbindet? Etwa zwei Jahrtausende trennen die Anfänge des „Buchs der Bücher” von der hochtechnisierten Medizin unserer Tage, und fast 750 Jahre liegt die Abfassung der „Legenda aurea”, der beliebtesten und einflussreichsten Sammlung um Wundertaten und Abenteuer der christlichen Heiligen, zurück. Seither haben Renaissance, Aufklärung und Positivismus in unseren Breiten Glauben und Wissen zu zwei vollständig getrennten Lebensbereichen geformt - wenn auch damit manche Sinnfragen virulenter denn je geworden sind.

So überlassen Ärzte die „biblische Medizin” für gewöhnlich Theologen und Medizinhistorikern, die dieses Feld seit mehr als 150 Jahren erfolgreich bearbeiten [16] [26] [31]. In gleichfalls hervorragender Weise untersuchen Mediävisten und Religionshistoriker die mittelalterlichen Schutzpatrone und ihre Funktion in Bezug auf Gesundheit und Krankheit [1] [7] [9]. Doch allen Säkularisierungswellen zum Trotz gibt es einen medizinischen Bereich, der bruchstückhafte Erinnerungsspuren an die vormals engen Verbindungen zwischen dem Glauben einerseits und der Patho- bzw. Salutogenese andererseits bewahrt hat: Es ist die Sprache der Heilkunde, die den Blick des aufmerksamen Betrachters mit Hilfe weniger, heute noch gebräuchlicher Ausdrücke auf solche verschütteten Zusammenhänge lenkt.

Mit einer gewissen Berechtigung kann man die Entstehung der medizinischen Terminologie als Prozess ansehen, der im Lauf der Jahrhunderte immer wieder neue Wort- und Bedeutungsschichten übereinander gelegt hat. Dabei stellt die derzeit geschriebene und gesprochene Fachsprache gleichsam die oberste Lage dar und verdeckt darunter liegende Zonen. Wie es bei geologischen Formationen gelegentlich zum unvermittelten Sichtbarwerden älterer Erdschichten kommt, so können auch in der Sprache der Medizin historisch „tiefer” gelegene und vergangenen Epochen zugeordnete Elemente plötzlich nahe der Oberfläche erscheinen. Wenn man diesen überraschenden Aufschlüssen nachspürt, dann wird etymologisch-historische Forschung zu einer Suche nach lexikalischen Leitfossilien, nach unbekannten Sinngehalten und vergessenen Kontexten - und zu einem Aufbruch ins Unbekannte, der ebenso instruktiv wie faszinierend zu werden verspricht.

Alle Begriffe, die in diesem Aufsatz Berücksichtigung finden, gehören formal betrachtet zur Gruppe der Eigennamen-Benennungen oder Eponyme. Darunter verstehen Sprachwissenschaftler Ausdrücke, die von einem Personennamen abgeleitet sind [17]. Innerhalb der Medizin würdigen solche „Bezeichnungen mit Eigennamenkonstituente” am häufigsten verdiente Ärztinnen und Ärzte. Sehr viel seltener erscheinen Patienten als sprachliche Ahnen. Neben diesen realen Anknüpfungspunkten besteht eine dritte Benennungs-Option: Auch imaginäre Gestalten können, sofern sie den angesprochenen medizinischen Sachverhalt idealtypisch repräsentieren, als Vorbilder dienen [34]. Bekannt ist die Nutzung mythologischer Modelle nach Art von Tendo Achillis, Ödipus-Komplex oder Narzissmus. Längst sind auch literarische Protagonisten sprachlich salonfähig geworden - man denke an so unterschiedliche poetische Charaktere wie den neuweltlichen Sauhirten Syphilus (→ Syphilis), den Lügenbaron Münchhausen (→ M.-Syndrom) oder den durch tragischen Suizid endenden Werther (→ W.-Effekt). Zwischen diesen Gruppen sind biblische Namenspatrone und mittelalterliche Heilige einzuordnen, die fortan im Mittelpunkt stehen.

Literatur

  • 1 Angenendt A. Heilige und Reliquien. 2. Aufl München: CH Beck 1997
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  • 4 Buckley H. The Hyper-IgE-Syndrome.  Clin Rev Allergy Immunol. 2001;  20 139-154
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  • 7 De Francesso G. Heilige als Krankheitshelfer.  Ciba Zeitschrift. 1935;  3 875-888
  • 8 Duden Etymologie .Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim: Bibliographisches Institut 1963
  • 9 Frey E F. Saints in medical history.  Clio Medica. 1979;  14 35-70
  • 10 Goldstein J. The wandering jew and the problem of psychiatric anti-semitism in Fin-de-siècle France.  J Contemp History. 1985;  20 521-552
  • 11 Höfler M. Deutsches Krankheitsnamen-Buch. München 1899. Nachdruck Hildesheim: Olms 1970
  • 12 Hyrtl J. Onomatologia anatomica. Geschichte und Kritik der anatomischen Sprache der Gegenwart. Wien: Braumüller; 1880. Nachdruck Hildesheim und New York: Olms 1970: 417
  • 13 Jankrift K P. Krankheit und Heilkunde im Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003: 126-129
  • 14 Jones W A. Further observations regarding familial multilocular cystic disease of the jaws.  B J Radiol. 1938;  11 227-241
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  • 16 Kaiser O. Krankheit und Heilung nach dem Alten Testament.  MedGG. 2001;  20 9-43
  • 17 Karenberg A. Fachsprache Medizin im Schnellkurs. Stuttgart: Schattauer 2000
  • 18 Karenberg A. „Die Poesie in Wirklichkeit verwandeln”. Antike Sagengestalten in der modernen Medizin.  Dtsch Med Wochenschr. 2003;  128 2698-2706
  • 19 Karenberg A. Amor, Äskulap & Co. Die klassische Mythologie in der Sprache der modernen Medizin. Stuttgart: Schattauer 2005
  • 20 v Krafft-Ebing R. Psychopathia sexualis. 7. Aufl Stuttgart: Enke 1892: 404
  • 21 Kunstmann J. The Transformation of Eros. Edinburgh und London: Oliver & Boyd 1964
  • 22 Marcovecchio E. Dizionario etimologico storico dei termini medici. Firenze: Festina Lente 1993
  • 23 Moog F P, Karenberg A. Heilige als Patrone gegen den Schlaganfall.  Early Science and Medicine. 2003;  8 196-209
  • 24 Osler W. On Chorea and Choreiform Affections. London: Lewis 1897
  • 25 Panofsky D, Panofsky E. Pandora’s Box. The changing aspects of a mythical symbol. 2nd ed New York: Pantheon Books 1962
  • 26 Preuss J. Biblisch-talmudische Medizin. Berlin: Karger; 1911. Nachdruck Westmead: Gregg International Publishers 1969
  • 27 Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. 259. Auflage Berlin und New York: De Gruyter 2002
  • 28 Roche Lexikon Medizin. Neue Aufl München und Jena: Urban & Fischer 2003
  • 29 Rodin A E, Key J D. Medicine, literature & eponyms. An encyclopedia of medical eponyms derived from literary characters. Malabar/Florida: Krieger Publishing Company 1989: 116-117
  • 30 Schechter D C. St. Vitus’ dance and rheumatic disease.  NY State J Med. 1975;  75 1091-1102
  • 31 Seybold K. Das Gebet des Kranken im Alten Testament. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1973
  • 32 Stolberg M. The crime of Onan and the laws of nature.  Paedagogica Historica. 2003;  39 701-717
  • 33 Terminologia Anatomica - International anatomical terminology. Stuttgart und New York: Thieme 1998
  • 34 Wiese I. Zur Leistung der Benennungen mit Eigennamenkonstituente in der deutschen medizinischen Fachsprache.  Linguistische Studien Reihe A. 1985;  129 414-419

Prof. Dr. med. Axel Karenberg

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