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DOI: 10.1055/s-2004-836110
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Thomas Manns Arzneien[1]
Thomas Mann’s MedicinePublikationsverlauf
Publikationsdatum:
16. Dezember 2004 (online)
Medizin und Dichtung
Als im Kapitel Walpurgisnacht des Zauberberg Hans Castorp zum ersten Mal Clawdia Chauchat anspricht - „Hast du nicht vielleicht einen Bleistift?” - da geht es ihm so:
Pharmakologie noradrenerger und adrenerger Systeme
Pharmakotherapie des Asthma bronchiale
Er war totenbleich ... Die Gefäßnervenleitung nach seinem Gesichte spielte mit dem Erfolg, daß die entblutete Haut dieses jungen Gesichtes blaßkalt einfiel, die Nase spitz erschien und die Partie unter den Augen ganz so bleifarben wie bei einer Leiche aussah. Aber Hans Castorps Herz ließ der Sympathikus in einer Gangart trommeln, daß von geregelter Atmung überhaupt nicht mehr die Rede sein konnte, und Schauer überliefen den jungen Menschen als Veranstaltung der Hautsalbendrüsen seines Körpers, die sich mitsamt ihren Haarbälgen aufrichteten. (Aus W. Forth et al. (Hrsg.): Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 2001)
Es ist der berühmteste Auftritt des Sympathikus in der Dichtung. Über P2X-Rezeptoren kontrahiert er Hans Castorps Blutgefäße, über β1-Adrenozeptoren läßt er sein Herz schneller schlagen, und über α 1-Adrenozeptoren macht er ihm eine Cutis anserina.
In dem Lehrbuch, aus dem dies stammt, stehen unter vielen Titeln dichterische Motti. Medizin und Dichtung sind Teile unserer einen Kultur, und der medizinische Unterricht sollte das sichtbar machen, aus drei Gründen, einem hedonistischen, einem medizinischen und einem poetologischen. Einem hedonistischen: Es ist ein amüsantes Spiel, etwas aus dem Alltag des Arztes in der Dichtung zu entdecken, wie diesen physiologischen Sachverhalt. Einem medizinischen: Medizin in der Dichtung und Dichtung in der Medizin erinnert an das gemeinsame Ziel Humanität, erinnert uns, daß der Arzt es - nach einem Wort des Leipziger Internisten Carl Reinhold August Wunderlich - nicht mit Krankheiten, sondern mit Kranken zu tun hat. Einem poetologischen: Am Beispiel medizinischer Sachverhalte können wir die Funktion von Realien in der Dichtung kennenlernen, Einblick gewinnen in die Technik sprachlicher Kunstwerke.
Ich möchte deshalb hier noch einmal - wie in der Weihnachtsausgabe 2002 der Deutschen Medizinischen Wochenschrift - Arzneien sich in der Dichtung spiegeln lassen.
Dazu eignet sich kein Dichter besser als Thomas Mann. Nirgendwo sonst bestimmt Krankheit so oft das Geschehen wie bei ihm und werden Arzneien so treffsicher plaziert.
Zwei weitere Gründe prädestinieren ihn für das Thema. Er hat selbst reichlich Arzneien genommen - wir wissen es aus seinen Tagebüchern -, und er besaß Sympathie für die Pharmakologie. Im Zauberberg belehrt Mynheer Peeperkorn Hans Castorp anläßlich eines Malaria-Fieberanfalls:
Ja, ein herrlicher Körper, die Fieberrinde! - es waren übrigens noch keine dreihundert Jahre, daß die Pharmakologie unseres Erdteils Kunde davon gewonnen, und noch kein Jahrhundert, daß die Chemie das Alkaloid, worauf seine Tugenden eigentlich beruhten, das Chinin also, entdeckt hatte - entdeckt und bis zu einem gewissen Grade analysiert; denn daß sie aus seiner Konstitution bis jetzt so recht klug geworden wäre oder imstande sei, es künstlich herzustellen, konnte die Chemie nicht behaupten. Unsere Arzneimittelkunde tat überall gut, sich ihres Wissens nicht lästerlich zu überheben, denn wie mit dem Chinin erging es ihr mit so manchem: Sie wußte dies und das von der Dynamik, den Wirkungen der Stoffe, allein die Frage, worauf denn diese Wirkungen genau genommen zurückzuführen seien, setzte sie oft genug in Verlegenheit.
Worauf sind die Wirkungen von Pharmaka genau genommen zurückzuführen? Eine Grundfrage der Pharmakologie, die nach der Pharmakodynamik, hat Mynheer Peeperkorn da am Beispiel des Chinins in Worte gefaßt.
Dessen nicht genug, fährt er fort:
- mit den Stoffen stehe es so, daß alle Leben und Tod auf einmal bärgen: alle seien Ptisanen und Gifte zugleich, Heilmittelkunde und Toxikologie seien ein und dasselbe <...>
konstatiert also die Identität von Pharmakologie und Toxikologie, jene Identität, die heute manche Toxikologen zu ihrem Schaden aus den Augen verloren haben, und erzählt dann sehr eindringlich und ungewöhnlich zusammenhängend von Schlangengiften, vom Atropin, vom Strychnin und vom Antiarin, das übrigens im Jahr 1900 Gegenstand der Habilitationsschrift des ersten Freiburger Pharmakologen, Walther Straubs, war.
1 Nach der Abschiedsvorlesung des Verfassers vom 15. Juni 2004
1 Nach der Abschiedsvorlesung des Verfassers vom 15. Juni 2004
Professor Dr. med. Klaus Starke
Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie
Otto-Krayer-Haus
Albertstraße 25
79104 Freiburg im Breisgau