Z Sex Forsch 2005; 18(1): 41-44
DOI: 10.1055/s-2005-836416
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Stadien des Zerfalls einer Theorie

S. Etgeton
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Nach hundert Jahren einen Text von Neuem zu interpretieren heißt, sich der Wahrheit, die er hier und jetzt darstellt, zu vergewissern, sich aber auch des Verlustes an Geltung, dem die Zeit ihn ausgesetzt hat, bewusst zu werden. Was Adorno [1: S. 75] für die Musik schrieb, gilt ebenso für Texte: „Die Werke schrumpfen in der Zeit ein, die Vielfalt des darin Seienden rückt zusammen.” Dies müsse auch bei den größten Werken akzeptiert werden: „den Zerfall der Werke in Geschichte bestreiten, hat reaktionären Sinn […]. Schicht um Schicht vielmehr lösen jene Gehalte zu ihrer Stunde vom Werke sich ab, und jede vergangene ist dem Werk unwiederbringlich […]. Sind die Gehalte ganz aufgedeckt, sind damit die Werke fraglos und unaktuell. Ihre Interpretierbarkeit hat ein Ende” [1: S. 62 f].

Obgleich Freuds „Abhandlungen zur Sexualtheorie” weiterhin mit Gewinn zu lesen sind, nagt auch an ihnen der Zahn der Zeit. Wenn aber Wahrheit einen Zeitkern hat, wäre es ohnehin vermessen, einem Text immer währende Aussagen einlagern, gleichsam die Spreu zeitgebundener Postulate vom Körnchen einer ewig gültigen Idee trennen zu wollen. Texte sind eben keine heiligen, sondern irdene Gebilde, und ihr Wahrheitsanspruch steht auf den tönernen Füßen der Zeitläufe. Darum dient die Ehrfurcht nicht dem Text noch im Falle Freuds dem Autor selbst, der ja ein Aufklärer und kein Apostel sein wollte. Wie umgekehrt die Denunziation des Textes insgesamt anhand seiner der Zeit bereits verfallenen Stellen ungerecht wäre und uns überdies noch um die lohnende Erkenntnis dessen brächte, wo und wie die Zeiten sich gewandelt haben und dass wir selbst uns ebenso sehr in der Zeit bewegen wie jene, die ihr schon zum Opfer fielen.

Je nach Interessenlage, Blickwinkel oder Zeitgeschmack werden einem die „Drei Abhandlungen” von Freud bei erneuter Lektüre veraltet oder aktuell vorkommen. Vorerst empfiehlt sich einer behutsamen, keinesfalls gläubigen Rezeptionshaltung, den Text als Dokument der Zeit um 1900 zu lesen und ihn dann Schicht um Schicht abzutragen. Kurze Illustrationen konkreter Sachverhalte, kleine Nebenbemerkungen lassen gerade dort erkennen, wie der Stand des Sexuellen zur Zeit Freuds war, wo dieser von unserem besonders stark abweicht: Dass etwa lesbische Paare heterosexuelle Geschlechterrollen („butch” und „femme”) besonders ausgeprägt nachahmten, wird man heute wohl kaum mehr behaupten wollen. Auch „die männliche Prostitution, die sich den Invertierten anbietet”, kann heute, zumindest in Europa, auf den „heute [= 1904/05] wie im Altertum” verbreiteten Sozialtyp, der „in allen Äußerlichkeiten der Kleidung und Haltung die Weiber kopiert” [2: S. 55], weitgehend verzichten. Und eine analoge Bezeichnung der „Volkssprache” zum Begriff „Hunger” für den Bereich der Sexualität zu finden, fiele den Heutigen - denen sogar Geiz als „geil” verkauft wird - nicht mehr gar so schwer.

Etwas anders verhält es sich mit einigen grundsätzlichen Behauptungen der Freudschen Sexualtheorie(n), die bis heute umstritten sind, ohne dass man den Streit bereits für entschieden erklären könnte. Allerdings fände sich der Aufklärer und Rebell mit manchen seiner Thesen heute in der ihm sicher unbehaglichen Gesellschaft ausgepichter Chauvinisten und Reaktionäre wieder: „Die Sexualität der meisten Männer zeigt eine Beimengung von Aggression, von Neigung zur Überwältigung, deren biologische Bedeutung in der Notwendigkeit liegen dürfte, den Widerstand des Sexualobjektes noch anders als durch die Akte der Werbung zu überwinden” [2: S. 67]. „Das neue Sexualziel besteht beim Manne in der Entladung der Geschlechtsprodukte; es ist dem früheren, der Erreichung von Lust, keineswegs fremd, vielmehr ist der höchste Betrag von Lust an diesen Endakt des Sexualvorganges geknüpft. Der Sexualtrieb stellt sich jetzt in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion; er wird sozusagen altruistisch” [2: S. 112]. Betrachtet man indes den derzeitigen Zustand der Geschlechterverhältnisse realistisch, so dürfte die Geschichte auch heute über manche dieser Behauptungen erst noch hinwegzugehen haben.

Des Weiteren finden wir im Text der Abhandlungen Sätze, Leuchttürme der Erkenntnis, die nicht nur das gesamte 20. Jahrhundert Bestand hatten, sondern - sofern uns Heutigen ein solches Urteil gestattet sei - noch darüber hinausreichen dürften: „So wird man zur Vermutung gedrängt, dass die Alternative angeboren-erworben entweder unvollständig ist oder die bei der Inversion vorliegenden Verhältnisse nicht deckt” [2: S. 52]. „Das Sexualobjekt ist also in diesem Falle, wie in vielen anderen, nicht das gleiche Geschlecht, sondern die Vereinigung beider Geschlechtscharaktere, das Kompromiss etwa zwischen einer Regung, die nach dem Manne, und einer, die nach dem Weibe verlangt, mit der festgehaltenen Bedingung der Männlichkeit des Körpers (der Genitalien), sozusagen die Spiegelung der eigenen bisexuellen Natur” [2: S. 56]. „[…] ohne der Bisexualität Rechnung zu tragen, wird man kaum zum Verständnis der tatsächlich zu beobachtenden Sexualäußerungen von Mann und Weib gelangen können” [2: S. 124].

Schließlich trifft uns eine Formulierung, die, aus der philosophischen Tradition stammend, bei Freud in sehr konkretem Sinne gemeint, sich von Neuem in der Philosophie der Jahrtausendwende eingenistet hat: „Die Objektfindung ist eigentlich eine Wiederfindung.” Die Transformation, welche Nietzsches Gedankengut in Freuds Theorie erfuhr, hat wohl mit dazu beigetragen, jenen der neueren deutschen Philosophie einer unbefangeneren Lektüre zu eröffnen, was der französischen schon durch die Rezeption Heideggers ermöglicht wurde, der jedoch in Deutschland ähnlich belastet schien wie Nietzsche. Freuds Text dürfte als Quelle philosophischer Reflexion noch keineswegs ausgeschöpft sein. Inwiefern dies auch für die „Drei Abhandlungen” gilt, steht indes auf einem anderen Blatt.

Diese Beobachtungen führen nun zu der wirkungsgeschichtlichen Spekulation, ob für die Dynamik der historischen Entwicklung des Sexuellen - in der hundert Jahre sich zu einem wahrhaft garstigen Graben aufgetürmt haben - der Text Freuds wesentlich mitverantwortlich ist. Haben die „Drei Abhandlungen” selbst die Kluft hervorgetrieben, die uns Zeitgenossen von vielen ihrer damaligen Aussagen und Schilderungen trennt? Wäre demnach heute ihre konstatierte historische Wirkung größer als ihr auch in Zukunft sich zu bewährender theoretischer Gehalt? Hätte demnach der Text seine Halbwertzeit tatsächlich schon überschritten? Oder bleiben Impulse der Abhandlungen weiterhin, auch nach der „sexuellen Befreiung”, unabgegolten? Das 20. Jahrhundert hat den Text der Abhandlungen ausgezehrt, ja beinahe verzehrt durch eingehende klinische Anwendung, durch wiederholendes Herbeizitieren im sexualpolitischen Diskurs, durch vielfältige ästhetische Rezeptionen und nicht zuletzt durch die Banalisierungen der Kulturindustrie. Ob indes der Text schon völlig „fraglos” und damit seine Interpretierbarkeit am Ende sei, können vielleicht die Rezipienten in hundert Jahren entscheiden. Wir, die im 20. Jahrhundert Geborenen, stehen noch zu sehr in der Wirkung dieses Textes, als dass wir uns ein Urteil über seine Bestandskraft anmaßen dürften. Aber der Hoffnung können wir doch Ausdruck verleihen, dass „der Wahrheitscharakter des Werkes gerade an dessen Zerfall gebunden” bleibe [1: S. 62], indem es sich nämlich weiter interpretieren ließe.

Was vom Freudschen Text der Zeit bis heute standgehalten hat, liegt sicher weitgehend im Auge des Betrachters. Dass aber der Text die Lektüre lohnt, und zwar nicht nur als Zeitdokument, sondern als Einsatz für eine Theorie der Lüste, ist ebenso klar wie die Notwendigkeit, ihn dabei gehörig gegen den Strich zu bürsten. Kaum zufällig dürfte sein - und eine genaue Rezeptionsgeschichte hätte dies zu überprüfen -, dass vermutlich die Passagen über das „perverse” Verlangen weit mehr Interesse erhalten und wahrscheinlich auch verdient haben als die Postulate über „das so genannte normale Sexualleben des Erwachsenen” [2: S. 103]. Die Wahrheit der Freudschen Behauptung, dass Normalität und Abweichung näher bei- und ineinander liegen, als wir uns alltäglich zuzugestehen bereit sind, trifft indes noch die Theorie selbst: ihre säuberliche Trennung ist ein Konstrukt. Die Idee von der reifen, erwachsenen Sexualität, bei der „der Lusterwerb in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion getreten ist und die Partialtriebe unter dem Primat einer einzigen erogenen Zone eine feste Organisation zur Erreichung des Sexualzieles an einem fremden Sexualobjekt gebildet haben” [2: ebd.], bleibt eine Fiktion - und nicht einmal eine nützliche. Dieses transzendentale Postulat der Freudschen Sexualtheorie sollte wohl einmal den Erhalt der bürgerlichen Gesellschaft sichern helfen; „zum Verständnis der tatsächlich zu beobachtenden Sexualäußerungen” [2: S. 124] trägt es wenig bei. Vielmehr fühlen sich die Leser bei den Schilderungen des „Perversen” besser verstanden, oftmals gar ertappt; sie erkennen sich selbst heute wie vor hundert Jahren nicht im „Normalen”, sondern im „Perversen” wieder. Nur die Reaktion darauf hat sich, symptomatisch für den Zeitcharakter des Sexuellen, geändert: Schossen Scham und Wut vormals mit kaum verdeckter Röte ins Gesicht, so werden sie heute hinter zur Schau gestellter Abgeklärtheit verborgen.

  • 1 Adorno T W. Moments musicaux. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1964
  • 2 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Studienausgabe, Bd. 5. 6. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, 1989; 37-145