Z Sex Forsch 2005; 18(1): 45-48
DOI: 10.1055/s-2005-836418
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Eine kontinuierlich fließende Quelle der Stimulation[*]

W. Everaerd
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Als ich diese Anmerkungen zu den „Drei Abhandlungen” Freuds vorbereitete, wurde mir deutlich, dass seine Charakterisierung des sexuellen Triebes auch auf mein fortdauerndes Interesse an diesem Büchlein anwendbar ist. Zugleich haben die Worte Freuds, die ich im Titel des vorliegenden Textes[*] benutzt habe, mir bewusst gemacht, wie sehr Freud ein Kind seiner Zeit ist und anerkennt, was er den berühmten deutschen Sexologen und dem „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen” verdankt. Meine wichtigsten Referenzen für die Psychologie der Jahrhundertwende sind diese Autoren der Sexologie sowie William James, besonders sein Werk „Principles of Psychology” [5]. Freud und James waren gut ausgebildete Mediziner, die über eine tiefe Einsicht in die Struktur und die Funktion des Gehirns verfügten. Sie setzten sich mit der ewigen Frage auseinander, warum wir so handeln, wie wir handeln, und wodurch menschliche Handlungen bestimmt sind. Zwar konnten sie nicht auf den fortgeschrittenen Einsichten über die Struktur und die Funktion des Gehirns aufbauen, die uns heute zur Verfügung stehen, doch ihre Spekulationen beweisen eine einfallsreiche Voraussicht.

Ich möchte auf zwei Punkte eingehen, die in Freuds „Drei Abhandlungen” und auch in anderen seiner Arbeiten besonders herausragen: die sexuelle Motivation und die Kontrolle sexueller Handlungen. Meine Hauptreferenz ist die „Standard Edition” [2] [4], die mit der interessanten Frage beginnt, wie das deutsche Wort „Trieb” ins Englische zu übersetzen sei. James Strachey und Anna Freud, die Übersetzer, haben sich entschieden, das englische Wort „instinct” zu benutzen. Ihre Gründe sind nicht leicht zu verstehen. Sie verweisen ihre Leser auf Freuds Aufsatz „Triebe und Triebschicksale” [3]. Freud vergleicht hier das Konzept des Instinkts mit einem (äußeren) Stimulus und fragt: „Wie verhält sich nun der ‚Trieb’ zum ‚Reiz’?” [3: S. 211]. Im Unterschied zu einem äußeren Stimulus operiert der Instinkt aus dem Inneren des Organismus heraus. „Ferner: Alles für den Reiz Wesentliche ist gegeben, wenn wir annehmen, er wirke wie ein einmaliger Stoß; er kann dann auch durch eine einmalige zweckmäßige Aktion erledigt werden, als deren Typus die motorische Flucht vor der Reizquelle hinzustellen ist. Natürlich können sich diese Stöße auch wiederholen und summieren, aber das ändert nichts an der Auffassung des Vorganges und an den Bedingungen der Reizaufhebung. Der Trieb hingegen wirkt nie wie eine momentane Stoßkraft, sondern immer wie eine konstante Kraft. Da er nicht von außen, sondern vom Körperinnern her angreift, kann auch keine Flucht gegen ihn nützen. Wir heißen den Triebreiz besser ‚Bedürfnis’; was dieses Bedürfnis aufhebt, ist die ‚Befriedigung’. Sie kann nur durch eine zielgerechte (adäquate) Veränderung der inneren Reizquelle gewonnen werden” [3: S. 212].

Der heutige Leser erkennt in Freuds Beschreibung leicht ein einfaches homöostatisches Modell, bei dem Handlungen dazu dienen, eine „konstante Kraft” in Balance zu halten - mit der Vorstellung, dass ein Zuviel an innersystemischer Spannung, ebenso wie in der Hydraulik, ein Ventil erfordert [6] [7].

In der dritten Abhandlung [1] geht Freud auf „das Problem der sexuellen Erregung” ein, und hier können wir einen tieferen Einblick in seine Gedanken über Motivation gewinnen. „Es ist uns durchaus unaufgeklärt geblieben, woher die Sexualspannung rührt, die bei der Befriedigung erogener Zonen gleichzeitig mit der Lust entsteht, und welches das Wesen derselben ist. Die nächste Vermutung, diese Spannung ergebe sich irgendwie aus der Lust selbst, ist nicht nur an sich sehr unwahrscheinlich, sie wird auch hinfällig, da bei der größten Lust, die an die Entleerung der Geschlechtsprodukte geknüpft ist, keine Spannung erzeugt, sondern alle Spannung aufgehoben wird. Lust und Sexualspannung können also nur in indirekter Weise zusammenhängen” [1: S. 114].

Die hydraulische Sichtweise legt nahe, Anspannung als negativ zu betrachten und aus diesem Grunde nicht mit Lust zu verbinden. Freuds Vermutung, wonach „die Spannung irgendwie aus der Lust entsteht”, kommt dem Kern gegenwärtiger Motivationstheorien näher. Rückblickend mag es seltsam erscheinen, weshalb Freud und seine Zeitgenossen Motivation und Lust nicht miteinander verbunden haben, wie es heute in Anreiztheorien der Motivation üblich ist. Das Wissen über die Neurobiologie der Belohnungsmechanismen hat unser Verständnis der sexuellen Motivation vorangebracht. Wir wissen jetzt, dass unser Gehirn eine Art Allzweck-Mechanismus besitzt, dessen Untersuchung uns erlaubt zu verstehen, wodurch Handlungen angetrieben werden. Sensorische Information wird auf der Basis früherer Erfahrungen verarbeitet, um belohnende Konsequenzen vorherzusagen, Handlungen einzuleiten (durch motorische Vorbereitung) und schließlich Belohnungen zu erlangen. Singer und Toates [8] beschreiben sexuelle Motivation als ein für bestimmte Anreize sensitives System. Die Motivation basiert auf einer angeborenen Tendenz, sich diesen Anreizen zu nähern. Hinzu kommt ein drittes Element: die Wahrscheinlichkeit des Zugangs zu einem Partner oder einem Ereignis, das die Belohnung ermöglicht. Es gibt wenigstens zwei wesentliche Unterschiede zu Freuds Konzept. Zum einen ist Motivation nicht eine Quantität, von der wir mehr oder weniger haben, eine Vorstellung, die sich in der Metapher eines Dampftopfs niederschlug, der unter einem gewissen Druck steht. Motivation entsteht vielmehr als eine Handlungstendenz, die sich verstärkt, wenn bestimmte Bedingungen zutreffen, vereinfacht gesagt, wenn ein attraktiver Anreiz vorhanden und der Zugang möglich ist. Zum Zweiten ist der Zugang zu Sexualpartnern sozial reguliert und diese Regulation gehört zu einem umfassenden gesellschaftlichen System. Daher kann sexuelles Verhalten nur in einem sozialen Kontext verstanden werden.

Nach dieser kurzen Diskussion sexueller Motivation wende ich mich nun der Kontrolle sexueller Handlungen zu. Ebenso wie Freud hat auch James einiges darüber geschrieben, wie Impulse gehemmt werden. Sein wichtigster Punkt ist, dass die Hemmung aus Gewohnheiten entsteht und manchmal auch von der lebensgeschichtlichen Wandlung des Impulses beeinflusst wird. Die Veränderung des Testosteronspiegels mit dem Alter ist ein Beispiel für eine lebensgeschichtliche Wandlung. Gewohnheiten entstehen aus Erziehung und Training. Freud musste Mechanismen zur Veränderung der Stoßrichtung der Impulse ersinnen, wie zum Beispiel den Mechanismus der Sublimation sexueller Impulse in nichtsexuelle. Und auch umgekehrt: Übermäßiges Interesse an Sex kann ein Indikator für psychologische Probleme anderer Art sein. James schätzte ebenso wie Freud die Vorstellung, wonach wir im Laufe der Evolution unser Gehirn entwickelt haben, um Kontrolle über unser Leben auszuüben. Heute können wir durch bildgebende Verfahren zeigen, wie präfrontale Aktivation zur Hemmung sexueller wie emotionaler Reaktionen und Handlungsbereitschaften führt und dass sie für diese erforderlich ist. Wir sind allgemein besser in der Lage, Reaktionen auf eine Situation zu verhindern, wenn wir die Einschätzung der Situation und die Zuweisung der Aufmerksamkeit beeinflussen, als wenn wir Reaktionen zu unterdrücken suchen, die bereits entstanden sind.

Sexuelles Handeln kann weitgehend aus nichtsexuellen sozialen Faktoren wie z. B. Macht, Aggression und antisozialen Tendenzen vorhergesagt werden. Das Befolgen von Regeln und Konventionen über den Zugang zu sexuellen Partnern hängt nur teilweise von der Kontrolle sexueller Handlungstendenzen ab. Daher sind die Belohnungen für Regelüberschreitung kompliziert und nicht nur sexueller Natur. Die Ergebnisse einer neueren Studie von Vanderschuren und Everitt [9] zeigen am Beispiel zwanghaften Drogengebrauchs bei Ratten die Grenze der Verhaltenskontrolle, und diese Ergebnisse haben vielleicht auch Relevanz für das Verständnis der Verhaltenskontrolle von Sexualstraftätern. Die Autoren fanden, dass aversive Konditionierung das Suchtverhalten unterdrückte, allerdings nur dann, wenn Ratten begrenzte Kokaingaben erhielten, nicht jedoch, wenn ihnen über längere Zeit Kokain verabreicht wurde. Freud wie auch James haben die Frage gestellt, warum wir so handeln, wie wir handeln, und noch immer gibt es darauf keine Antworten, geschweige denn Lösungen, die Sexualstraftätern und ihren Opfern in ihrem Unglück helfen könnten.

Damit ist wohl deutlich geworden, dass ich Freuds Interpretationen der sexuellen Motivation nicht für zutreffend halte. Dennoch bleibt seine Arbeit für mich „eine kontinuierlich fließende Quelle der Stimulation”.

1 Aus dem Englischen von Dietrich Klusmann, Hamburg

  • 1 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). In: Gesammelte Werke, Bd. 5. London: Imago, 1942; 27-145
  • 2 Freud S. Three essays on the theory of sexuality (1905). In: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud. Vol. VII. London: The Hogarth Press, 1953; 125-243 (dt.: Freud 1905/1942)
  • 3 Freud S. Triebe und Triebschicksale (1915). In: Gesammelte Werke, Bd. 10. London: Imago, 1946; 209-232
  • 4 Freud S. Instincts and their vicissitudes (1915). In: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud. Vol. XIV. London: The Hogarth Press, 1957; 111-140 (dt.: Freud 1915/1946)
  • 5 James W. The principles of psychology. New York: Holt, 1890
  • 6 Laumann E O, Gagnon J H, Michael R T, Michaels S. The social organization of sexuality. Chicago: The University of Chicago Press, 1994
  • 7 Schmidt G. Sexuelle Motivation und Kontrolle. In: Schorsch E, Schmidt G (Hrsg). Ergebnisse zur Sexualforschung. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1975
  • 8 Singer B, Toates F M. Sexual motivation.  J Sex Res. 1987;  23 481-501
  • 9 Vanderschuren L JMJ, Everitt B J. Drug seeking becomes compulsive after prolonged cocaine self-administration.  Science. 2004;  305 1017-1019

1 Aus dem Englischen von Dietrich Klusmann, Hamburg

2 Der Originaltitel von Everaerds Aufsatz lautet: „A continuously flowing source of stimulation”. Damit bezieht er sich auf eine Stelle von Freud, in der dieser den Trieb als eine psychische Repräsentanz „einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle” bezeichnet [1: S. 67]. Der in dem englischen Wort „stimulation” enthaltene Doppelsinn ist für Everaerds Rekurs auf Freuds Triebtheorie nicht unwichtig.

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