Z Sex Forsch 2005; 18(1): 76-78
DOI: 10.1055/s-2005-836425
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ein anderer Kern des Unbewussten

W. Mertens
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Sicherlich resultiert ein Teil der Wertschätzung, die ich auch heute noch für Freuds „Drei Abhandlungen” empfinde, aus den Gefühlen, die ich als junger Mann Ende der 60er-Jahre hatte, als ich dieses Werk Freuds kennen lernte. In dieser Zeit einer immer noch vorhandenen Prüderie und Verlogenheit, der eher betulichen Aufklärungskampagne Oswalt Kolles, aber auch einiger dramatischer Oben-Ohne-Aktionen politisch linker Studentinnen hatten Freuds Auffassungen für mich etwas Erfrischendes. So genannte sexuelle Abweichungen galten nicht mehr als „Entartung”, sondern als lebensgeschichtlich entstandene Vorlieben, die damit auch verstehbar wurden. Freuds latente Gesellschaftskritik verband sich mit den sozialrevolutionären Gedanken von Autoren wie Wilhelm Reich und Herbert Marcuse, dessen Buch „Triebstruktur und Gesellschaft” die Utopie eines herrschaftsfreien Raumes beschwor und hiermit sicherlich auch kindlich-lustvolle Fantasien und Erinnerungen an die geheimnisvolle, faszinierende Sexualität wachrief.

Es gefiel mir, dass Freud, in den „Drei Abhandlungen” - ähnlich wie in der „Traumdeutung” - konsequent auf psychologischem Grund blieb. Die sexuelle Identität entsteht seiner Meinung nach ausschließlich aus der inneren und äußeren Auseinandersetzung eines Kindes mit seinen Eltern während der ödipalen Phase, wobei er sich überwiegend mit der ödipalen Vater-Sohn-Beziehung beschäftigte. Andere Faktoren, wie z. B. die heutige evolutionsbiologische Auffassung einer genetischen Disposition geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen und Eigenschaften, spielten bei ihm so gut wie keine Rolle, so dass man ihm später sogar den Vorwurf machen konnte, er hätte ein „übersozialisiertes” Bild vom Menschen gezeichnet. Freud grenzte sich also sehr von der somatischen und vererbungstheoretischen Tradition der Medizin ab, in der er selbst stand. Dies wiederum hatte mit der Rebellion gegen die Väter zu tun, mit dem Wunsch, sich von den Lehrmeinungen des medizinischen Mainstreams deutlich zu unterscheiden, was mir imponierte.

Erst später wurde mir klar, dass Freud in den „Drei Abhandlungen” eine allzu einfache und letztlich auch reduktionistische Erklärung für die Entstehung einer geschlechtlichen Identität vertreten hatte, dass seine psychosexuelle Phasentheorie eine zu starre Abfolge darstellte, dass sie einen normativen Bias enthielt, dass sie zu stark und zu ausschließlich die sexuellen Faktoren im engeren Sinn für die Entstehung einer geschlechtlichen Identität postulierte und dass die „Drei Abhandlungen” und Freuds spätere Werke zur psychosexuellen Entwicklung von seinem patriarchalischen Denken geprägt waren, was u. a. zu einer Geringschätzung der weiblichen Anatomie führte. Anfang der 1990er-Jahre habe ich deshalb vor dem Hintergrund objektbeziehungstheoretischer und selbstpsychologischer Konzepte eine Revision der Freudschen Auffassung über die psychosexuelle Entwicklung und die Entstehung der Geschlechtsidentität vorgelegt.

Mein psychogenetisches Denken ist nicht zuletzt durch die Vielfalt psychoanalytisch-entwicklungspsychologischer Theorien komplexer geworden, aber ohne ein Modell der psychosexuellen Entwicklung wäre es unvollständig. Dieses muss ständig neuen klinischen Erfahrungen angepasst werden (s. u.). Ich erachte es jedoch als wichtig, dass die Theorie der psychosexuellen Entwicklung nicht eines Tages gänzlich aus der Psychoanalyse verschwindet. Denn die Kritik an der Triebtheorie (womit zumeist deren metapsychologische energietheoretische Begründung gemeint ist, die als überholt gilt) sowie der Primat des Luststrebens haben dazu geführt, das mancherorts mit der Triebtheorie auch die infantile Sexualität aufgelöst wurde. So ist in einigen gegenwärtigen psychoanalytischen Publikationen nur noch von Individuen die Rede, die auf Anerkennung erpicht sind und bei Bindungsobjekten Schutz suchen. Mit anderen Worten: Zur Zeit dominieren die wohlerzogenen Kinder der Psychoanalyse wie das Modell des kompetenten Kleinkindes und die Bindungstheorie, die sich empirisch kontrollieren und mit Videokameras überwachen lassen; die Schmuddelkinder mit ihren heimlichen sexuellen Fantasien und Sehnsüchten, mit ihren sexuellen Rivalitäten und Rangeleien bleiben in vielen psychoanalytischen Theorien gegenwärtig eher außen vor. Es scheint, als hätten sie sich in die Chatrooms des Internets oder in die Labors der Sexologen zurückgezogen. Ein Grund mehr, der psychosexuellen Theorie innerhalb der Psychoanalyse wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Die Erfahrungswelt der Psychosexualität kann als eine psychologische Theorie formuliert werden, die nicht dem Verdikt einer one-body-psychology unterliegt, sondern sich den bewussten wie unbewussten Interaktionen und Kommunikationen verdankt, die in einer Familie mit spezifischen soziokulturellen Erfahrungsinhalten erlebt werden.

Zu dem Zeitpunkt, als ich die „Drei Abhandlungen” kennen lernte, hatte ich als junger Assistent für Sozialpsychologie bereits ein ausgeprägt interaktionistisches Verständnis von Eltern-Kind-Beziehungen. Die Theorie von Alfred Lorenzer fügte einen weiteren Baustein hinzu. In meine nicht schulengebundene Ausbildung zum Psychoanalytiker während der 1970er-Jahre an der Münchner Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie flossen Konzepte der Objektbeziehungstheoretiker, der Selbstpsychologen, der Interpersonalisten und der relationalen Psychoanalytiker mit ein. Trotzdem - oder vielleicht auch gerade wegen dieser Theorienvielfalt - gab es in meiner Arbeit das Bemühen, die psychosexuelle Entwicklung, wenn auch nicht als ständige Rekonstruktionsfolie, so doch als wichtigen Hintergrund für das Verständnis von Patienten im Auge zu behalten. Erste Relativierungen bestimmter Annahmen in diesen Konzepten wie z. B. die der Machtkämpfe in der analen Phase wurden von der Theorie von Margaret Mahler in Gang gesetzt.

Bowlbys ethologisches Denken und sein Konzept eines Bindungsinstinkts machten noch einmal eine Auseinandersetzung mit Freuds Triebbegriff notwendig, der ja gerade nicht einseitig biologisch missverstanden werden darf, sondern in der Kindheit zunächst eine psychosexuelle Größe ist und deshalb auch auf eine subjektive Bildungsgeschichte verweist. Erst die in der Pubertät erfolgenden hormonellen Änderungen lassen aus den bis dahin überwiegend psychologisch zu begreifenden sexuellen Bedürfnissen auch ein körperliches Geschehen werden.

Die theoretischen Unstimmigkeiten in Freuds Denken über die psychosexuelle Entwicklung finden eine gewisse Auflösung in der „allgemeinen Verführungstheorie” von Jean Laplanche. Diese lässt sich als eine konsequent psychoanalytisch-sozialpsychologische Theorie begreifen. Eltern verführen ihre Kinder auch mit ihren unbewussten Botschaften, die aufgrund ihrer erwachsenen Sexualität entstehen. Das Nichtassimilierbare bildet nach Laplanche das Unbewusste oder zumindest einen wichtigen Kern des Unbewussten - aus neuerer gedächtnispsychologischer Sicht würden wir sagen: einen Kern nichtbewusster prozedural erfahrener, sinnlicher, gestischer, taktiler und olfaktorischer, aber auch stimmlich-prosodischer Signale, die von den Eltern an ihr Kind gesendet werden. Diese Auffassung unterscheidet sich von der klassischen psychoanalytischen Konzeption des Unbewussten, weil die elterlichen Botschaften in den ersten Kindheitsjahren nicht im deklarativen, autiobiografischen Gedächtnis gespeichert werden. In der Liebe erwachsener Menschen kann deshalb nicht nur der Andere in seinem Begehren unverständlich bleiben, sondern auch die eigenen sexuellen Wünsche.