Z Sex Forsch 2005; 18(1): 5-9
DOI: 10.1055/s-2005-836445
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

On revient toujours à ses premiers amours

I. Azoulay
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Wenn ich Sie zu einem kurzen Spaziergang durch die erotische Kunst des anbrechenden 20. Jahrhunderts einlade, möchte ich Sie warnen: Ziehen Sie sich warm an! Denn es erwartet uns eine nicht gerade unterhaltsame Promenade. Ohne die Eckpfeiler, die Freud mit seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” absteckte, wäre die Einladung reine Provokation, eine Zumutung.

Denn selbst wenn wir alle Aspekte von Freuds ebenso hellsichtigem wie genialem Wurf in unser Denken integriert haben, von der Ablehnung von Begriffen wie Degeneration oder Entartung über die Lockerung unserer Gedanken, die uns zum Verständnis der Stufenleiter aller Usancen führt, bis hin zur Einsicht, dass die Grenze des Ekels eine Konvention ist, selbst dann verspüren wir ein leichtes Unbehagen. Erst vor diesem Hintergrund können wir ermessen, dass die Spanne zwischen 1900 und 1920 uns die reichsten grafischen Werke geschenkt hat. Endgültig der lieblichen, samtseidigen Gefälligkeit des Biedermeiers entkommen, ist es vorbei mit den glatten Lithographien, Schluss mit den lauen Spielereien im Boudoir von Déveria, an denen weder Anrüchiges noch Entrüstendes zu finden war. Zartes Lächeln, seichte Mimiken, weiche Gesten. So harmlos, dass wir erst mit dem zweiten Blick das pornographische Moment wahrnehmen konnten. Aufwändige Kleider, üppiges Dekor lenkten uns ab. Keine Schamverletzung, kaum Scham überhaupt, die unschuldige Hand streichelte den aufrechten Penis und kaum einer bemerkte es. Nun ist die Schonzeit verstrichen und mit Genugtuung stellen wir fest, dass sich die Unterwelt bewegt. Endlich verlassen wir die flachen Erwartungen der Bourgeoisie, und es beginnen Risse ihren Anstand zu strapazieren. Mit der zittrigen Umklammerung der Lust erscheinen nun auch deren düstere und oftmals bedrohliche Schatten. Bislang hatte man flüchtig mal hier, mal da das Sexuelle als Unbehagen begriffen. Nun muss man sich seiner Unintegrierbarkeit stellen; die Anarchie der Triebe regt sich unterm brennenden Gesäß. Guten Morgen!

Wie ein scharfer Diamant spiegeln die erotischen Motive die Brüche und Niederlagen des Barmherzigkeitsgesäusels des vergangenen bigotten Zeitalters. In der Darstellung von Entfesselung und den damit einhergehenden Zweifeln, bei einigen schiere Verzweiflung, gewinnt das Metaphysische wieder Raum. Das Inbild des Lebens wird wichtiger als sein Abbild. Nicht die Welt gilt als das Primäre, sondern die Seele. Nicht die Welt spiegelt sich im Ich, sondern das Ich zeigt sich verloren. Die Sprache des Expressionismus ist konvulsivisch, Laune und Leidenschaft rücken in die Mitte. In Literatur und bildender Kunst spielt Schönheit keine Rolle mehr. Im Gegenteil, Schönheit beginnt als Maske verstanden zu werden, hinter der die wirklichen Interessen einer Person brodeln - und diese sind paradox, unsittlich, dramatisch oder traurig. Wie ein reinigendes Gewitter bricht grelles Licht ein, eine wohltuende Entzauberung. In der erotischen Kunst kommt eine Das-Spiel-ist-aus-Stimmung auf. Es wird nicht retuschiert, wenig koloriert, Unmittelbarkeit wird gesucht. Die breiten Straßen der Tugendhaftigkeit leeren sich und man drängt sich in den dunklen Gassen ihrer Kehrseiten. Sowohl in der Literatur als auch in Bildern wird auf Kausalität und Logik verzichtet. Die premiers amours, zu denen wir toujours zurückkehren, erweisen sich nicht selten als erschreckend. Die romantischen Träume verrecken am Straßenrand, während Dixsche Huren auf dem Trottoir der Fantasie frech lästern und gieren. Das Selbstgespräch der Seele martert unser Gewissen und verführt unseren Anstand. Die Entdeckung der Großstadt pflanzt das Chaos in die Mitte der Herzen. In diesem Chaos zeigen sich unsere intimsten Widersprüche. In der Unüberschaubarkeit der Großstadt findet die fragile Seele, die sich sonst zwischen Willkür und unerfüllbaren Erwartungen gequetscht fühlte, ein warmes Refugium. Im Gewühl wird Schutz gesucht, und gleichzeitig ist die permanente Anstrengung der Seele, nicht unterzugehen, evident. Vibrierende Stimmen verleihen der neuen Ästhetik einen wahnhaften Ausdruck.

Wir fangen an zu verstehen, vieles ist lebbar, alles ist träumbar. Die erotische Kunst sprengt das Korsett des 19. Jahrhunderts, und ihre spannendste Ära bricht an. Seit Krafft-Ebing erahnten wir die polymorphen Facetten unserer Intentionen und Pulsionen. Freud nun kreist die Sache vorsichtig ein. Das ehrgeizige Über-Ich schwankt, geht in die Knie. Das Ich stürmt auf die Barrikaden. Schluss mit der Berechenbarkeit, die dem Begehren bislang unterstellt wurde. Es gibt ein Organ des Abgründigen: das Unbewusste. Finger weg, es gibt nichts zum Anfassen, nichts zu sezieren und zu zerlegen. Das Organ ist nicht gegenständlich. Die Fantasie neckt uns abermals und überlässt uns den Tigern der Perversionen in der Arena unserer Ängste und Sehnsüchte.

Otto Weininger heult auf und schlägt auf klägliche Weise zurück. Sein misogyner Hass spiegelt uns die zarten Fantasien jener Männer, die sich nicht zu retten wissen. Aber das Chaos der Immoralität lässt sich nicht korrumpieren. Währenddessen sammelt und katalogisiert Magnus Hirschfeld Merkwürdigkeiten. Mit der frischen Brise aufklärerischer Werte vertreiben Neugierde und Mut langsam die Dämonen religiöser Dogmen, die die Lebendigkeit des Körpers und die Fantasie ins eng umzäunte Gelände von Norm und Abnorm gepfercht hatten. Es ist nicht mehr die Stimme von Don Juan, die Gott mit seinem no die Stirn bietet. Es ist weitaus komplexer. Die frommen Hilfskonstrukte des 19. Jahrhunderts stehen auf schwachen Füßen; die Lügen der doppelbödigen Moral ersticken langsam. Die Frau, die durch das 19. Jahrhundert versittlicht und entsinnlicht wurde, aus dem Handlungsforum herausgehalten und zur guten Mutter geformt, schleppt sich dahin. Die Unheimlichkeit der bürgerlichen Familie hat Sackgassen geschaffen, aus denen nur mühsam herauszufinden ist. Aber Rache ist geduldig. Mit der faszinierenden Erfindung der Hysterie schicken die Frauen einen unbestechlichen Vertreter vor: ihr Unbewusstes. Die wohl erzogene Frau zeigt sich laut und wild. Rien ne va plus.

Die fiebrigen Halluzinationen von Willi Geiger tyrannisieren unser Vorstellungsvermögen und gleichzeitig ahnen wir, dass Abwehr nur ein Aufschub ist. Oder, mit Bataille gesprochen, wir spüren, das Ungeheuerliche steckt in uns selbst. Eine Grafik von Willi Geiger betrachtet man nicht, man stellt sich ihr. Etwas drückt uns an die Wand. Wir spüren, wie sich der Satz von Bataille bewahrheitet: „Der Mensch kann das, was ihn erschreckt, übersteigen, er kann ihm ins Gesicht sehen.” Geht es um Lust? Der Schauder lässt uns das fast vergessen. Erbarmen! Wir versinken mit all unseren Schwächen und kleben am vermeintlich süßen Geschmack der Begierde. Eins ist sicher: Das Laster erfüllt mehr Menschen mit Glück als die Tugend.

Unsere Krone purzelt davon, unser Mut schwindet, ebenso unsere Sicherheiten. Schwindelnd sehen wir bei Geiger Missbrauch, Nekrophilie, Größenwahn und entfesselte Misogynie - und sie erscheinen unausweichbar und logisch. Aber das Verhängnis ist ambivalent, denn durch diese vielen Abgründe verspüren wir eine Gewissheit: Die Essenz des destruktiven Moments besteht aus dem Absolutheitsanspruch positiv besetzten Strebens. Die Sünde ist hartnäckig, weil ich großartig bin und weil ich alles will. So kommen wir leise dem Wesen der Gewalt in der sexuellen Fantasie auf die Schliche. Die Gewalt will nichts zerstören, sie ist die intensive Suche nach Umarmung, nach Versöhnung, Ruhe, Tod.

Geigers Grafiken sind beängstigend durch ihre Gnadenlosigkeit. Er hat nichts zu verschenken. Vor der Auslöschung noch einmal zuschlagen. Es ist die Mahnung desjenigen, den gleich die Drohung, ins Nichts zu fallen, erreichen wird. Die Gewalt bei Geiger hat den schreienden Charakter desjenigen, der wenigstens einmal Rache üben möchte. Launisch, grausam, einsam zeigt uns Willi Geiger - 1907! - die Fratze einer Sexualität, deren Tendenz zur Selbstdestruktion immanent, nahezu bedrängend ist. Dürre, hagere, knochige Körper werden von kaum vorstellbaren Affekten überschwemmt, wie ein Donner schlägt die Überschreitung ins Geschehen ein. Wütende Ungeduld, verzerrte Gesichter, Häme, sogar fieses Gelächter glaubt man zu hören. Geiger wringt die Tränen des Eros aus einem nassgeheulten Leichentuch, fletscht die Zähne und schaut uns nach, wenn wir bis ans Ende der Welt rennen.

Nachdem man sich Geiger gestellt hat, ist man für die Demut, die Michel Fingesten in die Melancholie seiner Motive streut, nahezu dankbar. Das mächtige, unerklimmbare Weib ist bei Fingesten mollig, sättigend und dennoch unberechenbar. Mit hängenden Schultern stehen die Männer geduldig Schlange, um sich zwischen seinen Beinen einem warmen Strahl auszuliefern. Der Mann ist hoffnungslos und der warme Urinregen wird nichts mehr retten können: Les jeux sont faits. Die Satire vom gegnerischen Weib zeigt es nymphomanisch und zugleich sicher in seiner Unerreichbarkeit. So unsachlich, lasziv und rätselhaft verspielt, dass es jedenfalls niemals die existenzielle Angst auslösen kann, die Fingesten in seinen phallischen Fantasien unaufhörlich in Schach zu halten versucht. Fingestens Motive zeigen einen kapitulierenden Mann. Die Schultern gebeugt, hisst er die weiße Fahne vor dem lasziven Weib und frisst ihm aus der Hand. Ein Mann, der, um mit seiner Seele Frieden zu finden, von vornherein beschließt, der Frau gegenüber sei die Schlacht verloren. Verschmuster als die Engel des Bösen schließt er die Augen und taucht ins weiche Fleisch, und die Abgründe erscheinen wie unwirkliche Küsten, an denen müde Löwen in tiefster Einsamkeit schlummern.

Bei Fingesten gibt es keine knochigen Fieslinge. In den Rundungen der Körper spürt man den Verschleiß einst virulenter Absichten, die die Zeit in Demut und Melancholie gegossen hat. Die Unzulänglichkeit sexueller Angelegenheiten schildert Fingesten in warmen, wenn auch vergeblichen Umarmungen. Er weiß um die Ausweglosigkeit von Kontinuität und Zweisamkeit. Er weiß auch um die Fata Morgana, die wir als Leidenschaft verspüren. Der Stoff, aus dem sexuelle Verbindungen mit neckischem Zutun des Es gewebt sind, erweist sich als derart dehnbar, dass der Wille nach Verständnis und Deutung in die weichen Fasern der Ratlosigkeit sickert. Fingesten nimmt Freud sofort wahr und ernst. In seinen „Psychoanalytischen Glossen” (1915) sucht er den Schulterschluss in einem betörenden Sirenengesang. Schon auf dem Titelblatt teilt er die Ratlosigkeit Freuds angesichts des dunklen Kontinents. Eine Ratte nähert sich dem weiblichen Geschlecht und im Hintergrund versinkt Sigmund im Bücherberg, während eine nackte Frau unbeschwert ruht, vielleicht schläft sie. Er schickt die Analytiker mit Vergrößerungsgläsern hin, wohl wissend, dass die Suche nach einem Reim vergeblich ist.

Nahezu erholsam wirkt danach der entzückende Sadismus aus den Erotischen Grotesken, einer Bilderfolge, die mit Pipifax signiert ist und Max Liebermann zugeschrieben wird. Die Folge führt zwar die Angst-Lust vor dem Weib vor, doch der Humor zeigt Gnade. Er zeigt uns Männer, die wie geneppte Professoren Unrat erscheinen und deren Ausgeliefertsein etwas Schicksalhaftes hat. Dem Weib gegenüber verhält sich Pipifax ähnlich wie Fingesten: Grundsätzlich haben es die Frauen bequem, während die Männer schweißgebadet immer nach einem Notausgang suchen. Dennoch führt der verschmitzte Strich etwas Generöses ein, das die Drohung schwächt und die Schlacht zwischen den Geschlechtern eher als ewiges Gezeter erscheinen lässt, das auch vergnügliche Enklaven kennt, die wir hörig immer wieder aufsuchen.

Und nehmen wir uns dann des Mappenwerks „Ekel” eines Laszlo Boris an, atmen wir auf und erinnern uns, dass es doch in sexuellen Angelegenheiten viel Komisches gibt und immerhin manchmal auch etwas zu lachen. Wir sind erleichtert, dass überhaupt kein Ekel im Spiel ist. Im Gegenteil: Man ist gerührt über die in der Knappheit der Striche mit einer bübischen Verschmitztheit so witzig eingefangenen Alltagsmotive.

All diese wunderbaren Handschriften erotischer Motive steuern auf eine nicht mehr hintergehbare Einsicht hin: An den vielen Schauplätzen des Begehrens erscheint der einst als Ziel geglaubte Akt, die Erfüllung von Lust durch die Penetration, die Befleckung, die Bemächtigung, als vollkommene Schimäre, als vermeintliche Erlösung. Kurzatmiges Feuerlöschen. Die Fusion ist ein Traum. Der Traum ist aus. Der Betrug um das Glück ist aufgedeckt, und es öffnen sich unendlich viele Nischen, in denen wir zahlreiche Partialvergnügen erkennen können. Das Fest kann beginnen.

So verschieden die Künstler des Erotischen von 1900 bis 1920 sein mögen, jeder ist auch Zeichen für den Einzug des ebenso banalen wie unerträglichen Paradoxons des Sexuellen ins Bewusstsein. Das Glück ist vergeblich. Die morbiden, skurrilen, sarkastischen oder traurigen Motive tanzen Eros zum ersten Mal eindeutig auf der Nase herum. Und auch wenn der Taumel in der Thanatosspirale von bejahendem Willen geprägt ist, das bejahende Subjekt ist dort zum despotischen Kleinkind regrediert, herrschsüchtig und verletzlich zugleich. Wir bereuen nichts.