Z Sex Forsch 2005; 18(1): 34-35
DOI: 10.1055/s-2005-836446
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Positive und negative Bisexualität

M. Dannecker
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Eingefleischte Konstruktivisten werden vermutlich überrascht sein zu hören, dass ausgerechnet ein Psychoanalytiker namens Freud bis in die Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts gegen den Diskurs anschrieb, der Homosexuellen eine spezifische Persönlichkeit und zugleich eine Sondernatur verschaffte. Dabei zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die Textur jenes Abschnittes der „Drei Abhandlungen”, in dem es um die Inversion geht, dass Freud die bereits damals geläufige Reduktion der Homosexualität auf manifest Homosexuelle nicht teilte. Das fängt damit an, dass er darin Formen der Homosexualität erwähnt, die sich mit der Vorstellung von invertierten Personen nicht oder nur schwer vereinbaren lassen. Das gilt auch dann, wenn er von invertierten Personen spricht, die nach seiner Einteilung entweder „absolut invertiert” oder „amphigen invertiert” oder aber „okkasionell invertiert” sind. Es handelt sich dabei genau genommen und in verblüffender Übereinstimmung mit Kinsey um homosexuelles Verhalten, also um das Phänomen Homosexualität und nicht um Eigenschaften von Personen.

Dass Freud etwas anderes im Blick hat als seine sexualwissenschaftlichen Kollegen, wobei vor allem Hirschfeld zu nennen ist, auf den er sich mehrfach bezieht, ohne ihn freilich ausdrücklich zu erwähnen, spricht er gleich zu Anfang aus. „Viele Autoren”, so schreibt er, „würden sich weigern, die hier aufgezählten Fälle zu einer Einheit zusammenzufassen, und ziehen es vor, die Unterschiede anstatt der Gemeinsamen dieser Gruppen zu betonen, was mit der von ihnen beliebten Beurteilung der Inversion zusammenhängt. Allein so berechtigt Sonderungen sein mögen, so ist doch nicht zu verkennen, dass alle Zwischenstufen reichlich aufzufinden sind, so dass die Reihenbildung sich gleichsam von selbst aufdrängt” [1: S. 49].

Freud behandelt die Homosexualität als ein zerstreutes Phänomen, das nicht über einen Kamm zu scheren ist und aus der Besonderheit der Homosexuellen nicht angemessen beschrieben werden kann. Das Beharren Freuds auf einer allgemein gültigen Auffassung der Inversion ermöglicht es ihm, auch die griechische Knabenliebe als eine besondere Form der Homosexualität zu behandeln und an dieser gleich zwei ihm wichtige Auffassungen zu pointieren, und zwar die der Männlichkeit der Invertierten und die bisexuelle Objektwahl der Invertierten: „Bei den Griechen, wo die männlichsten Männer unter den Invertierten erscheinen, ist es klar, dass nicht der männliche Charakter des Knaben, sondern seine körperliche Annäherung an das Weib sowie seine weiblichen seelischen Eigenschaften […] die Liebe des Mannes entzündeten.” Einen Satz später kommt Freud dann auf das Sexualobjekt dieser Invertierten zu sprechen und sagt: „Das Sexualobjekt ist also in diesem Falle, wie in vielen anderen, nicht das gleiche Geschlecht, sondern die Vereinigung beider Geschlechtscharaktere, das Kompromiss etwa zwischen einer Regung, die nach dem Manne, und einer, die nach dem Weibe verlangt, mit der festgehaltenen Bedingung der Männlichkeit des Körpers (der Genitalien), sozusagen die Spiegelung der eigenen bisexuellen Natur [1: S. 56, Hervorh. M. D.] [*].

Nun kann man sich fragen, ob die bisexuelle Objektwahl und die bisexuelle Natur, die sich an den griechischen Knabenliebhabern so schön zeigt, auch für das mannmännliche Begehren im Besonderen und für das sexuelle Begehren im Allgemeinen gilt. Und spätestens 1915 war Freud in dieser Frage ganz entschieden. Eine andere Interpretation lässt die berühmte, aus dieser Zeit stammende Anmerkung, die er genau am Ende des Absatzes einfügte, in dem er über die Knabenliebe der Griechen spricht, kaum zu. Dort heißt es: „Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von anderen Menschen abzutrennen. Indem sie auch andere als die manifest kundgegebenen Sexualerregungen studiert, erfährt sie, dass alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewussten vollzogen haben” [1: S. 56, Fn. 1].

Nur wenn man den Ursprungstext über die griechischen Knabenliebhaber aus dem Jahr 1905 mit dieser Anmerkung zusammenbringt, ist deren Radikalität voll zu ermessen: Die griechischen Knabenliebhaber sind Invertierte, die aber nicht einmal vom eifrigsten Willen zum Pathologisieren erreicht werden, weil niemandem einfallen würde, sie als eine besonders geartete Gruppe von anderen abzutrennen. Und die griechischen Knabenliebhaber sind Invertierte, deren Objektwahl trotz der eindeutigen anatomischen Verhältnisse nicht gleichgeschlechtlich, sondern bisexuell ist. Und die Homosexuellen sind, wenn auch auf etwas andere Weise als die griechischen Knabenliebhaber, sozusagen positive Bisexuelle, die jeder für sich und miteinander zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit oszillieren. Und die Heterosexuellen, die nach Freuds Überzeugung unbewusst alle eine gleichgeschlechtliche Objektwahl vollzogen haben, sind sozusagen negative Bisexuelle, wobei auch bei ihnen die Bedingung der Möglichkeit der gleichgeschlechtlichen Objektwahl in der eigenen bisexuellen Natur liegt. Das aber würde bedeuten, dass das Gemeinsame, das alle Sexualitäten miteinander haben, in der Bisexualität zu suchen ist, von der sie, wenn auch auf unterschiedliche Weise, durchdrungen sind.

  • 1 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Studienausgabe, Bd. 5. 6. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, 1989; 37-145

1 Die kursivierten sieben Wörter sind nicht in der Erstausgabe der „Drei Abhandlungen” aus dem Jahr 1905 enthalten, sondern wurden zehn Jahre später eingefügt.

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