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DOI: 10.1055/s-2005-836468
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
IGELN - ein fragwürdiges Geschäft
IGELN - A Doubtful BusinessPublication History
Publication Date:
14 April 2005 (online)
Das IGEL-Konzept (Individuelle Gesundheits-Leistungen) wurde bekanntlich vom damaligen KBV-Vorsitzenden Winfried Schorre im Oktober 1997 zusammen mit Lothar Krimmel entwickelt. Das Konzept entstand in einer Situation, wo es aufgrund der budgetierten Gesamtvergütung für Leistungen aus dem Kassenbereich immer weniger Geld zu geben schien. Da erschien es nur konsequent, sich andere Einnahmenquellen zu erschließen. Nach der Definition der KBV handelte es sich um „solche ärztlichen Leistungen, die nicht zum Leistungsumfang der GKV gehören, die dennoch von Patienten nachgefragt werden und die ärztlich empfehlenswert oder - je nach Intensität des Patientenwunsches - zumindest ärztlich vertretbar sind” [1] [2]. Die Befürchtungen, die bereits bei der Einführung des IGEL-Konzepts geäußert wurden, hier ginge es in erster Linie ums zusätzliche Geschäft [3], haben sich inzwischen weitegehend bestätigt. Unter aktiver Mitarbeit einiger Berufsverbände und Praxisberater hat sich dieser Ansatz in der Praxis vielfach zu einem Patienten-Abzocke-Modell entwickelt, das mit Panikmache arbeitet (vgl. die unten zitierten Beispiele). Neben medizinisch fragwürdigen „Vorsorge”-Checks (Osteoporose-Screening, Glaukom-Screening, PSA-Screening), werden wirkungslose apparative Techniken (Bioresonanz, Magnetfeldbehandlungen), Revitalisierungskuren, unsinnige Vitamin- und Mineralstoffkombinationen und vieles andere mehr propagiert. In Tab. [1] findet sich eine Auswahl fragwürdiger IGEL-Leistungen, die auf der Webseite http://www.igelarzt.de [4] propagiert werden. Auch die zahlreichen ärztlichen Gesundheits-Shops, der Verkauf aller möglicher Nahrungsergänzungen und Diätprodukte gehört hierher. Es werden alle juristischen Finessen eingesetzt, um die an sich eindeutigen Bestimmungen der Berufsordnung (vgl. Tab. [2]) zu umgehen. Das Erschreckende an dieser Entwicklung ist, dass mittlerweile das IGEL-Konzept anscheinend die Köpfe vergiftet hat und Ärzte sich überhaupt nichts anderes vorstellen können, ihr Einkommen zu verbessern, als den Patienten für medizinisch fragwürdige Dinge Geld aus der Tasche zu ziehen, wobei den betreffenden Kollegen jegliches Unrechtsbewusstsein zu fehlen scheint.
Tab. 1 Typische IGEL-Leistungen - empfehlenswert und vertretbar? (Quelle: www.igelarzt.de) allergologische Diagnostik und Beratung bei Gesunden zur Abklärung einer atopischen Belastung („Allergie-Check”) Lungenfunktionsprüfung zur Krankheitsfrüherkennung („Pulmo-Check”) Osteodensitometrie (Knochendichtemessung) zusätzliche jährliche Gesundheitsuntersuchung urologische Komplett-Vorsorge für Männer („Uro-Check”) begleitende Beratung und Betreuung bei Verordnung von Nicht-GKV-Arzneimitteln zur Behandlung der erektilen Dysfunktion begleitende Beratung und Betreuung bei Verordnung von Nicht-GKV-Arzneimitteln zur Adipositas-Behandlung Eigenblutbehandlung Akupunktur (> 20 Minuten) Hochdosis Vitamin-C-Kur Thymus-Therapie Vitaminaufbaukur pulsierende Magnetfeldtherapie, Referenz-Hersteller: Unimed Siena computergestützte lichtoptische Wirbelsäulenvermessung mit 3D-Messverfahren (formetric mit Visual Spine)
Tab. 2 Aussagen der ärztlichen Berufsordnung „Ärztinnen und Ärzten ist untersagt, im Zusammenhang mit der Ausübung ihrer ärztlichen Tätigkeit Waren und andere Gegenstände abzugeben oder unter ihrer Mitwirkung abgeben zu lassen sowie gewerbliche Dienstleistungen zu erbringen oder erbringen zu lassen, soweit nicht die Abgabe des Produkts oder die Dienstleistung wegen ihrer Besonderheiten notwendiger Bestandteil der ärztlichen Therapie sind.”„Der ärztliche Berufsauftrag verbietet es, diagnostische oder therapeutische Methoden unter missbräuchlicher Ausnutzung des Vertrauens, der Unwissenheit, der Leichtgläubigkeit oder der Hilflosigkeit von Patientinnen und Patienten anzuwenden.”„Eine korrekte ärztliche Berufsausübung verlangt, dass Ärztinnen und Ärzte beim Umgang mit Patientinnen und Patienten (…) über die beabsichtigte Diagnostik und Therapie, ggf. über ihre Alternativen und über ihre Beurteilung des Gesundheitszustandes in für die Patientinnen und Patienten verständlicher und angemessener Weise informieren und insbesondere auch das Recht, empfohlene Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen abzulehnen, respektieren.”
Ohne Frage müssen Ärzte von ihrer Arbeit leben können. Dass steht hier ebenso wenig zur Debatte wie die Frage nach Höhe oder Angemessenheit des Einkommens. Es widerspricht aber dem ärztlichen Berufsverständnis, die eigenen Leistungen wie ein Jahrmarktschreier unter die Leute zu bringen.
Grundlage jeglicher ärztlicher Tätigkeit ist die ärztliche Ethik und die daraus sich ableitende(n) ärztliche(n) Berufsordnung(en) [5]. Das ethisch einwandfreie ärztliche Handeln muss honoriert werden, dafür ist zu kämpfen (Kollege Niemann aus Hamburg erinnerte an die Herkunft des Wortes Honorar als Ehrenlohn). Die Art des Gelderwerbes muss sich nach der Ethik richten und nicht umgekehrt. IGELN mit nachgefragten Leistungen oder mit Leistungen, nach denen ein Bedürfnis erst mühsam geweckt werde muss, ist dann unethisch, wenn diese Leistungen nachweislich dem Patienten keinen Nutzen bringen. Kann der Patient bei fehlendem Nutzen sogar Schaden nehmen, grenzt der Verkauf solcher Leistungen an Schurkerei.
Dementsprechend abzugrenzen sind Leistungen wie Tauchbescheinigung, Lastwagenführerschein oder reisemedizinische Beratung. Diese Leistungen waren noch nie Bestandteil der kassenärztlichen Versorgung. Sie brauchen auch nicht beworben zu werden, denn der Patient fragt von sich aus nach diesen Leistungen. Ihm ist bewusst, dass sie nicht in den Bereich der Solidargemeinschaft gehören.
Tab. 3 Sinnvolle hausärztliche Leistungen (die noch nie im Leistungskatalog der GKV enthalten waren) Atteste und Bescheinigungen für private Zwecke (Versicherungen, Versorgungsamt, Gerichte etc.) Untersuchung von Gesunden für Sporttauglichkeit, Führerschein u. a. reisemedizinische Beratung und Reiseimpfungen präventive Beratung und Gruppenschulungen (Ernährung, Raucherentwöhnung)
Ärzte schulden dem Patienten eine Behandlung nach den Regeln der Kunst, die sich an sachlichen Gesichtspunkten, nicht an kommerziellen Aspekten orientiert. Vor allem der Wissensvorsprung des Arztes gebietet es, mit den Ängsten und Sorgen des Patienten verantwortungsvoll umzugehen. Das besondere Vertrauen, das der Arzt im Bewusstsein der Öffentlichkeit und insbesondere gegenüber dem individuellen Patienten genießt, beruht unter anderem auf der Gewissheit, dass das Arzt-Patient-Verhältnis kein Verkäufer-Kunde-Verhältnis ist. Patienten sind in deshalb keine Kunden, weil sie häufig die Notwendigkeit einer Maßnahme nicht abschätzen und z. B. keine (Preis-) Vergleiche anstellen können. Die Ethik gebietet, mit seiner Arbeit nicht beim „guten Kunden”, dem also, der den besten Ertrag verspricht, zu beginnen, sondern beim Bedürftigsten.
Dennoch wird täglich massenhaft gegen diese Grundsätze verstoßen. Hier nur einige Beispiele für geläufige „IGEL-Leistungen” [6]:
Patientin bezahlt bei Gynäkologen Ultraschall und Stuhltest, obwohl wegen suspektem CT-Befund des Uterus überwiesen und vor drei Wochen eine Kontrollkoloskopie erfolgt war, nach einer Darmresektion wegen eines Kolonkarzinom. Patientin beim anderen Gynäkologen: „Ihre Haut sieht aber deutlich vorgealtert aus, da empfehle ich ihnen diese hormonhaltige Salbe, die sie gleich hier an der Anmeldung kaufen können.” Patientin beim dritten Gynäkologen: „Was, sie lehnen die vorsorgliche Ultraschalluntersuchung zum Selbstkostenpreis ab? Da müssen sie hier unterschreiben, dass wir sie über das Risiko, das sie damit eingehen, aufgeklärt haben.” Patient beim Urologen, gleiche Masche mit Unterschrift bei verweigertem Selbstzahler-PSA. Patient kommt vom Orthopäden mit Verordnungswunsch von Bisphosphonaten, weil eine Selbstzahler-Knochendichtemessung (ohne Fraktur) einen T-score von - 1,5 ergeben hatte (Warum wohl verordnet der Kollege nicht selber?).
Auf einen besonderen Widerspruch weisen folgende Auszüge aus einer Diskussion innerhalb eines Ärztenetzes hin:
„Alle reden von Evidenz-basierter Medizin, d. h. davon, dass wir unser Handeln an den Erkenntnissen möglichst guter klinischer Studien und an einer guten klinischen Erfahrung ausrichten müssen. Regelmäßig bekommen wir Informationen der KV, dass Scheininnovationen, so genannte Me-too-Präparate oder „umstrittene Präparate” vermieden werden sollen. Gleichzeitig wird geschrieben vom IGELN, von Aufbauspritzen und Vitalisierungskuren, von höchst umstrittener Hörsturztherapie, von der Notwendigkeit zu werben. Werben heißt abwerben (von Kollegen). Von Werbung profitieren nur Agenturen, niemals der Patient und am Ende auch nicht die Ärzte. Wir müssen dafür streiten, für gute und seriöse Medizin auch gutes Honorar zu bekommen. … SchweinIGELN macht uns angreifbar, erschüttert unwiederbringlich das Vertrauen der Patienten in seriöse Medizin und Ärzte, macht uns zu Krämern. Die Zerstörung des Vertrauens der Patienten, von ihrem Arzt nicht benutzt und übervorteilt zu werden, ist nicht wieder herzustellen. Wer kann den Spagat zwischen evidenzbasierter Medizin als Kassenleistung und unmoralischem IGELN aushalten?
Der Internist Bernd Kalvelage [7] fasste anlässlich einer Tagung der Akademie für integrierte Medizin in Hamburg die Verunsicherung des Patienten über seinen Arzt in die bange Frage: „Behandelt er noch oder IGELT er schon?” Er erhielt minutenlangen Beifall für seinen hervorragenden Vortrag. Wie ich auch, sieht er die Ärzteschaft an der gefährlichen Weggabelung, ihr Vertrauen und ihr Ansehen zu verspielen, wenn sie hier nicht klare ethische Grenzen zieht. In dieser Hinsicht will ich mir gerne Fundamentalismus vorwerfen lassen. Heute Abend erst waren (in diesem Falle verbrecherische) ästhetische Chirurgen [ich will beileibe nicht die ästhetischen Chirurgen insgesamt verdächtigen] Gegenstand eines Tatort-Krimi, was immerhin zeigt, wie tief die Problematik schon in der Bevölkerung verankert ist. Hieraus resultierte also meine Forderung nach mehr Seriosität. Ich brauche wohl nicht zu betonen, wie tief in die menschliche Seele die derzeitige Auseinandersetzung über Wellness, Schönheitschirurgie, Vitalisierung, Anti-Aging reicht, nämlich letztlich in den Versuch, die Sterblichkeit zu negieren” [8].
In der aktuellen Diskussion um Qualität in der Medizin wird zu Recht gefordert, dass der Nutzen möglichst vieler ärztlicher Maßnahmen durch seriöse Wissenschaft zu belegen sei. Daraus folgt, dass diese seriöse ärztliche Arbeit auch ein gutes Honorar verdient, welches fragwürdige andere Erwerbsquellen überflüssig macht. Dafür, dass die Bürger nicht in dieser Weise „abgezockt” werden, haben die Verantwortlichen der Selbstverwaltung und der Politik Sorge zu tragen. Innerhalb der Ärzteschaft sollten die hier in Rede stehenden Selbstzahlerleistungen, die mit wenig oder keinem Nutzen, eventuell sogar Gefährdung für den Patienten verbunden sind, geächtet werden. Der altertümliche Begriff „Anstand”, oder moderner: „ärztliches Gewissen” oder „interne Kontrolle” hat hier eine Wiederbelebung verdient.
Wenn jetzt im Zusammenhang mit den Gewinnen von Aktiengesellschaften bei gleichzeitigem Arbeitsplatzabbau und der Verlagerung von Arbeitsplätzen aus Deutschland in Billiglohnländer immer lauter die Forderung nach einer Diskussion über Ethik und Moral in der Arbeitswelt erhoben wird, sollten die Ärzte ermutigt sein, diese Diskussion auch im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit offensiv zu führen und sich weiterhin ihren eigenen Regeln zu unterwerfen. Letztlich wird das auch ihre wirtschaftliche Existenz besser sichern als ein kurzfristiger Gewinn mit unmoralischen Methoden bei gleichzeitigem Vertrauensverlust.
Nebenbei: auch reguläre Behandlungen zulasten der gesetzlichen Krankenkassen sind im wörtlichen Sinne „individuelle Gesundheitsleistungen”. Oder kann man diesen Begriff anders verstehen?
Dieser Aufsatz wurde angestoßen durch eine Debatte im Listserver Allgemeinmedizin zum diesem Thema.
Interessenkonflikte: keine angegeben
Literatur
- 1 Glöser S. Neuordnung des GKV-Leistungskatalogs: Kein Weg aus der Finanzkrise. Dt Ärztebl. 1997; 94 2959
- 2 Krimmel L. Individuelle Gesundheitsleistungen: Mit dem „IGEL” aus der Grauzone. Dt Ärztebl. 1998; 95 578
- 3 Maus J. Sinnvolle Klarstellung oder „Geschäftemacherei”?. Dt Ärztebl. 1998; 95 860
- 4 http://www.igelarzt.de. . (Online-Angebot von Frielingsdorf Consult), am 10.2.2005
- 5 (Muster-) Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte (Stand 2004). http://www.bundesaerztekammer.de/30/Berufsordnung/ am 10.2.2005
- 6 Lipécz A. Leserbrief in der Zeitschrift „Arzt & Wirtschaft” 12/2004.
- 7 Kalvelage B. Die Chronifizierung von Kranksein, Arztsein und Gesundsein. Vortrag im Rahmen der 11. Jahrestagung der Akademie für integrierte Medizin (AIM) am 13. November 2004 in Hamburg
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8 Mit Genehmigung des Verfassers verwendet
Dr. med. Stefan Bilger
Handschuhsheimer Landstr. 11
69221 Dossenheim
Email: dr.bilger@t-online.de