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DOI: 10.1055/s-2005-858891
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Ehrfurcht vor dem Leben
Publication History
Publication Date:
12 December 2005 (online)

Kaum war das Juni-Heft 2005, in dem ich mich im Editorial mit dem Tod von Terry Shiavo in Florida beschäftigte, in Druck gegangen, urteilte der Bundesgerichtshof am 8.6.2005 im so genannten Traunstein-Fall (siehe Nachrichten im Heft 5/2005). Zunächst die Beschreibung des „Traunstein-Falls”:
Der Heimbewohner befand sich nach einem schweren Suizidversuch 1998 im Wachkoma. Nach der Reanimation wurde er auf einer Intensivstation mit künstlicher Beatmung und Ernährung über eine PEG-Sonde behandelt. Dem Wunsch des Vaters und gesetzlichen Betreuers entsprechend wurde hier die künstliche Beatmung eingestellt, der Patient atmete jedoch wider Erwarten spontan. Seit September 1998 lebte er im Pflegeheim. Seit 2001 bemühten sich der Vater und der Hausarzt des Bewohners darum, auf gerichtlichem Wege gegen die Mitarbeiter und die Leitung des Heims durchzusetzen, dass die künstliche Ernährung über die PEG-Sonde eingestellt wird, in erster und zweiter Instanz vergeblich. Hier war für Recht erkannt worden, dass der Vater und der Hausarzt die Mitarbeiter des Heims nicht zwingen können, gegen ihr Gewissen zu handeln. Im März 2004 ist der Heimbewohner gestorben. Hier ist zunächst die Frage angebracht, warum bei dem Ansinnen des Vaters und des Hausarztes, den Patienten verhungern zu lassen, dies an andere Menschen delegiert werden sollte, warum die beteiligten Personen die Aufgabe nicht in die eigene Verantwortung genommen und den Patienten zu Hause versorgt haben.
Nun heißt es in dem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH): „Verlangt der Betreuer in Übereinstimmung mit dem behandelnden Arzt, dass die künstliche Ernährung des betreuten einwilligungsunfähigen Patienten eingestellt wird, so kann das Pflegeheim diesem Verlangen jedenfalls nicht den Heimvertrag entgegensetzen. Auch die Gewissensfreiheit des Pflegepersonals rechtfertigt für sich genommen die Fortsetzung der künstlichen Ernährung in einem solchen Fall nicht.”
Der BGH hatte nach dem Tod des Patienten nur über die Kosten des vorangegangenen Rechtstreits zu entscheiden und daher die dahinter stehenden Fragen der aktiven oder passiven Sterbehilfe, der Zulässigkeit von künstlicher Ernährung im Allgemeinen und hier speziell gegen den Willen des gesetzlichen Betreuers und die nach dem Lebenswillen des Patienten nur summarisch zu bewerten.
Die allgemeine Diskussion um Patientenverfügungen geht ausschließlich von Situationen aus, in denen der Patient schon in den Sterbeprozess eingetreten ist, so schwer krank ist, dass nach ärztlichem Urteil der Sterbeprozess unumkehrbar geworden ist, eine weitere Verlängerung des Lebens des Patienten nur eine Verlängerung des Leidens bedeuten würde und der Patient selbst den Willen zur Beendigung des Leidens vor nicht zu lange zurückliegender Zeit bekundet hat. Wir wissen aus der Erfahrung heraus, dass Menschen, selbst wenn sie früher einmal felsenfest davon überzeugt waren, z. B. im Rollstuhl nicht mehr leben zu wollen, sich im Fall von schwerer Krankheit und/oder Behinderung meist anders entscheiden.
Im vorliegenden Fall liegen zwischen dem Suizidversuch des Patienten und dem Ansinnen von Vater und Hausarzt, ihm die Ernährung zu entziehen, Jahre. Pflegerische Mitarbeiter des Heims hatten zu ihrem Bewohner eine Beziehung aufgebaut und konnten erkennen, wann er sich wohlfühlt, wann nicht. Sie konnten allerdings den aktuellen Willen des Bewohners zur Frage Leben oder Sterben nicht ermitteln. Hier ist zu fragen, ob der gesetzliche Betreuer, der nach dem Bericht des „Spiegel” mit seinem Sohn in der Zeit von dessen Wachkoma nicht sprechen konnte, eine zutreffendere und aktuelle Wahrnehmung über dessen Willen erreichen konnte. Die Äußerungen des Sohnes aus der Zeit vor dessen Suizidversuch, wie er leben wolle und wie nicht, lagen schließlich mehr als drei Jahre zurück und waren unter vollständig anderen gesundheitlichen Voraussetzungen erfolgt.
Das Urteil des BGH gesteht dem Heim und seinen Mitarbeitern eine eigene Prüfungskompetenz zur Frage der Fortsetzung der Ernährung über die PEG-Sonde nicht zu. Die medizinische Anordnung des behandelnden Arztes und die Entscheidung des gesetzlichen Betreuers ist bindend. Dasselbe gilt für Verneinung der eigenen Gewissensentscheidung von Mitarbeitern und Leitung des Heims, da ja widerrechtlich und aktiv (durch Ernährung) in die Willensentscheidung des Patienten, vertreten durch seinen gesetzlichen Betreuer, eingegriffen werde.
Wenn das Urteil des BGH in seinen Auswirkungen weitergedacht wird, was uns schwer fällt, dann wird uns angst und bange. Wie soll Mitarbeitern in der Psychiatrie und vor allem in der Allgemeinmedizin vermittelt werden, dass sie die Aufgabe haben, einen Patienten bei einem Suizidversuch wieder ins Leben zu holen? Wie soll man verhindern, dass Menschen einen sich strangulierenden Suizidenten „hängen lassen”? „Er hat es doch so gewollt!” Wer von uns kennt nicht die lebensverneinenden, aber auch hilflosen Äußerungen von Mitarbeitern und anderen Bürgern nach einem vollendeten Suizid: „Vielleicht ist es besser für ihn oder sie.” Ein depressiver Patient ist möglicher Weise über Wochen oder Monate suizidal, äußert eindeutig, dass er so nicht mehr leben möchte. Der o. g. Patient hatte vor seinem Suizidversuch in Notizen aufgeschrieben: „Lebensgefährtin wendet sich ab, Jobverlust droht, finanzielle Reserven werden schnell verbraucht sein, Freunde distanzieren sich. Kein Selbstwertgefühl. Kein Spaß. Keine Freude.” Hatte er vielleicht eine schwere Depression, die nicht erkannt wurde? Sollen dann Pflegekräfte entgegen ihrer Fachlichkeit und entgegen ihres Gewissens nicht mehr darauf achten, dass ein depressiver Patient zumindest ausreichend Flüssigkeit erhält, auch wenn er nicht trinken möchte? Wie soll ich als Heimleitung den Mitarbeitern vermitteln, dass auf Anordnung eines gesetzlichen Betreuers der eine Bewohner nicht mehr ernährt wird, beim anderen Bewohner im gleichen Zimmer alles versucht wird, dass er ausreichend Nahrung zu sich nimmt. Und dies, ohne dass bei einem der beiden Bewohner der Sterbeprozess begonnen hätte.
Das Wort von Albert Schweitzer „Ehrfurcht vor dem Leben” haben wir als Überschrift für diese Überlegungen gewählt. Dies soll auch Programm sein. Programm dafür, dass trotz dieses BGH-Urteils, das Pflegekräften keine eigene Urteilsfähigkeit zugesteht und ihre Rolle auf die der Empfänger von ärztlichen Anordnungen reduziert, wir darum kämpfen müssen, eigene Standpunkte zu erarbeiten und zu vertreten. Dies sollte zunächst und vor allem im eigenen Arbeitsbereich, in den Teams und Pflegegruppen, in der Supervision geschehen - überall, wo es um den einzelnen Menschen geht, vor dessen Leben wir Respekt und Ehrfurcht brauchen. Darüber hinaus brauchen wir als Berufsgruppe Pflege auch die Diskussion in den und die Unterstützung durch die Berufsverbände, die angesichts dieses Richterspruchs Stellung beziehen müssen.
Wir danken den Mitarbeitern und der Leitung des Heims im „Traunstein-Fall” für ihr Engagement für ihren Bewohner. Auch wenn dieses Urteil für sie negativ ausgefallen ist, wird sich ihr Engagement dann gelohnt haben, wenn in Zukunft die Berufsgruppe Pflege um ihre ethischen Grundlagen und Wurzeln kämpfen muss und hoffentlich wird.