Z Orthop Ihre Grenzgeb 2004; 142(6): 639-643
DOI: 10.1055/s-2005-862203
Orthopädie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Trainingstherapie bei Patienten mit chronischen Rückenbeschwerden - Entwicklung eines Risikofaktorenmodells zur Prädiktion der Compliance

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Publikationsdatum:
26. Januar 2005 (online)

 

Psychologische Mechanismen in der Schmerzchronifizierung

Einer Metaanalyse von Linton zu Prädiktoren einer Chronifizierung (12) zufolge sind es häufig psychologische Faktoren wie anhaltender Dysstress im beruflichen oder privaten Alltag, Depressivität (hier eher die depressive Verstimmung als Übersetzung von engl. depression), schmerzbezogene Kognitionen und Copingverhalten im Umgang mit den Schmerzen, welche die Chronifizierung von Rückenschmerzen begünstigen.

In der Literatur werden i.a. drei Gruppen von Modellen zur Erklärung psychologischer Mechanismen in der Schmerzchronifizierung genannt:

Das Diathese-Stress-Modell:

In diesem werden anhaltende psychosoziale Stressoren (Konflikt am Arbeitsplatz, Verlusterlebnisse) als begünstigend zur Entstehung und/oder Aufrechterhaltung der Schmerzen genannt. Prädisponiert sind zudem Personen, welche in chronischen Belastungssituationen zu einer tonischen Hyperaktivität symptomrelevanter Muskulatur mit den Folgen von Mangeldurchblutung, Ischämie und verstärkter Ausschüttung algetischer Substanzen (Kinine, Serotonin, Prostaglandine) neigen (5).

Operande Modelle:

... beschreiben die Folgen individuellen Schmerzverhaltens im Zusammenhang verstärkender Mechanismen wie Zuwendung von Bezugspersonen oder Entlastung von Aufgaben. Unabhängig von den Ursachen des Schmerzes kann das Schmerzverhalten unter die Kontrolle positiv oder negativ verstärkender Umweltbedingungen kommen. Die Patienten schränken als Folge von Lernprozessen ihre Aktivitäten immer mehr ein, es kommt bei ihnen langfristig zu einem muskulären Übungsdefizit bis hin zur Muskelinsuffizienz, wodurch das Risiko von Verletzung und Schmerz ansteigt (9).

Kognitive Modelle:

Innerhalb der kognitiven Modelle wird der Chronifizierungsprozess durch Denk- und Bewertungsmuster der Patienten als Antwort auf das Schmerzerleben erklärt (16). Diese Kognitionen stehen häufig im Zusammenhang mit individuellen Einschätzungen in Kombination mit

  • körperlicher Belastung

  • der Arbeit

  • einer katasthrophisierenden Interpretationen der Krankheitssituation und

  • erlebter/erlernter Hilflosigkeit

Innerhalb der letztgenannten Modelle haben Waddell et al. (16) den Fragebogen zu den Fear-Avoidance-Beliefs-Questionaire (FABQ) (Angst-Vermeidungsverhalten) entwickelt. Er liegt in Deutschland als authorisierte Übersetzung von Pfingsten (14) vor.

Angstbesetzte Kognitionen wurden in den unterschiedlichsten Arbeiten als auffälliger Prädiktor im Chronfizierungsprozess bei Rückenschmerzen genannt. So betonte Kronshage die erhöhten kritischen Bewertungsmaßstäbe innerhalb der kognitiven Konzepte von Rückenschmerzpatienten (11). Demnach bewerteten Patienten mit Rückenschmerzen vorgestellte rückenschmerzrelevante Bewegungen als bedrohlicher bzw. schädlicher als die Probanden zweier verschiedener Kontrollgruppen. Sie interpretierten dies mit einem kognitiven Konzept, wonach Patienten nicht unbedingt über praktisch relevante Erfahrungen mit - aus der Sicht der Patienten - rückenschmerzrelevanten Bewegungen zu verfügen brauchen, um derartige Konzepte zu entwickeln.

Alle Modelle postulieren ein verändertes, beziehungsweise reduziertes Bewegungsverhalten und demzufolge eine verstärkte Insuffizienz der wirbelsäulenstabilisierenden Muskulatur. Dies wurde in den Arbeiten von Denner (3) messtechnisch systematisch belegt.

Die pathophysiologischen Bedingungen dieser Defizite in der symptomrelevanten Muskulatur sind

  • die reduzierte simultane Rekrutierung und Frequentierung

  • eine Reduktion insbesondere der schnell zuckenden Typ-II-Muskelfasern

  • Veränderung der Muskeldichte (systematischer Austausch atrophierter Muskelfasern durch Fettgewebe)

Die positiven Veränderungen durch die dazu Ursachen bezogene, systematische analysegestützte medizinische Trainingstherapie sind bekannt (4).

Harter et al. konnten einen systematischen Zusammenhang zwischen den muskulären Defiziten und den angstbesetzten Kognitionen herstellen (8). Dieser Zusammenhang ließ sich aus den Zusammenhangseinschätzungen der Patienten zu Rückenschmerz...

  • ...und Arbeit (Faktor 2)

  • ...und Rückkehr an den Arbeitsplatz (Return-to-work) (Faktor 1)

  • globale Beurteilung "Schmerz und körperliche Aktivität" (Faktor 3)

  • spezifische rückenschmerzbezogene Beurteilung und körperliche Aktivität (Faktor 4) bezogen auf alters- und geschlechtsspezifische Vergleichsdaten zu den Fear-Avoidance-Beliefs-Questionair (FABQ) nach Waddel et al. (16) und basierend auf eine Studie mit 22845 Patienten, entwickeln (7).

Demnach ließ sich das Bestehen eines biomechanisch messbaren muskulären Defizits, schon aus dem Ausmaß der angstbesetzten Kognition signifikant abschätzen.

Dem zufolge ist auch anzunehmen, dass in der anschließenden Trainingstherapie unterschiedliche Ergebnisse zu erwarten waren. Die analysegestützte medizinische Trainingstherapie ist eine standardisiertes Konzept, basierend auf die Identifikation und Beseitigung der pathologischen Muskelphysiologie. Sie beinhaltet daher ein progressives dynamisches Krafttraining mit Gymnastik zur Beweglichmachung, Edukation und spezifischer Information. Daher sollten auch die differenzierten Effekte nicht nur in der Reduktion der muskulären Defizite zu erwarten sein, sondern auch in einer unterschiedlichen Bewertung der angstbesetzten Kognitionen.

Didaktisch stellte das progressive dynamische Krafttraining eine steigende Konfrontation mit möglicherweise angstbesetzten Situationen in der körperlichen Aktivität dar (6). Demnach konnte man eine Neubewertung dieser kognitiven Auseinandersetzung in den Faktoren 3 - globaler Zusammenhang Schmerz/körperliche Aktivität- und insbesondere Faktor 4 - rückenspezifischer Zusammenhang Schmerz/körperliche Aktivität - erwarten.