Geburtshilfe Frauenheilkd 2005; 65(8): 741-743
DOI: 10.1055/s-2005-865656
Editorial

Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neue operative Verfahren der Harninkontinenz - eine kritische Bilanz

New Operative Treatments for Urinary Incontinence - a Critical ReviewH. Kölbl1
  • 1Universitätsklinik für Geburtshilfe und Frauenkrankheiten, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
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Publication Date:
05 September 2005 (online)

Jede 3. Frau leidet an Harninkontinenz [[1]]. Deutschland führt europaweit in den Ausgaben wegen Vorlagenverbrauchs, obwohl es heute zahlreiche Therapiealternativen gibt. Harninkontinenz nimmt mit dem Alter zu, ist häufigster Grund der Aufnahme in Geriatriezentren und Pflegeheimen [[2]]. Die demografische Entwicklung in Deutschland und damit auch die Harninkontinenz stellt ein zunehmendes gesundheitspolitisches Thema dar und ist zentraler Behandlungsauftrag unseres Fachgebietes.

Die operative Therapie der weiblichen Belastungsinkontinenz hat in den letzten 10 Jahren ähnlich wie die Endoskopie in der Gynäkologie zahlreiche Neuerungen erfahren.

Seit 1961 gilt die erstmalig veröffentlichte Kolposuspension nach Burch, die mit nicht resorbierbaren Nahtmaterialien und der lockeren Aufhängung am Ligamentum ileoperineum von ihrer Originalmethode modifiziert eingesetzt wurde, als das Standardverfahren der Inkontinenzchirurgie [[3]]. Neben den herkömmlichen Schlingenoperationen stellt die Kolposuspension als das mit bis zu 20 Jahren am längsten und mit 78 % erfolgreichste operative Verfahren in der Therapie der Belastungsinkontinenz dar. Alle Verfahren haben keine 100 %-Erfolgsraten. Der Kolposuspension werden trotz hoher Kuration De-novo-Urgeprobleme in bis zu 15 %, postoperative Enterozelenentwicklungen in bis zu 35 % angelastet. Auch in der Rezidivtherapie schneidet die Kolposuspension mit 82 % nach 5 Jahren sehr gut ab.

Die Cochrane Library konnte in der Metaanalyse an 2403 Patientinnen signifikant bessere Ergebnisse der Kolposuspension gegenüber der „vorderen Plastik“, den Nadelsuspensionen, und der konservativen Behandlung bei gleich guten Resultaten wie die klassischen Schlingenoperationen nachweisen [[4]]. Der vorerst großen Euphorie der laparoskopischen Kolposuspension wurde durch die metaanalytische Aufarbeitung der Cochrane Database Review Group 2002 mit einem 10 %-Heilungsunterschied zugunsten der offenen Kolposuspension ein Ende bereitet [[5]].

Am wohl faszinierendsten in der letzten Vergangenheit war aber der den neuen Urethralschlingen vorangegangene Paradigmenwechsel über den Kontinenzmechanismus von der ursprünglichen Hypothese der Refunktionalisierung des urethrovesikalen Verschlussmechanismus (Inkontinenzkonzept der gestörten Drucktransmission nach Enhoerning, Hammock-Hypothese nach DeLancey) zur nunmehr Kontinenz bringenden Rekonstruktion im periurethralen Abschnitt der mittleren und distalen Urethra und der retropubischen Refunktionalisierung der pubourethralen Ligamente (Integraltheorie nach Petros-Ulmsten) [[6]].

Neben dieser grundlegenden Veränderung im Verständnis um die Pathophysiologie der Harninkontinenz und dessen therapeutischer Ansatz gab es weitere Neuerungen mit dem Postulat der geringeren Invasivität, der unterschiedlichen Zugangswege (retropubisch, transobturatorisch, periurethral), dem Verzicht auf Allgemeinnarkose in Lokalanästhesie und der kurzen Rekonvaleszenzphase.

Die Urogynäkologie hat dabei vieles gelernt: 1) Während in den skandinavischen Ländern die TVT-Operation an ausgewiesenen Zentren erprobt und unter strikten Kriterien gelehrt wurde, was zu einer hohen Ergebnisqualität führte, kamen im deutschsprachigen Raum die vermeintlich leichten Techniken fast über Nacht vielerorts zum Einsatz. Rasant wuchs die Zahl eingesetzter Bänder im Vergleich zu vorliegenden Behandlungsergebnissen aus klinischen Studien und die sich daraus ableitenden Konsequenzen. Nicht selten war diese Lernkurve mit nicht unbeträchtlichen Komplikationen verbunden.

Zudem ist unser Lernprozess noch lange nicht abgeschlossen, handelt es sich doch überwiegend um alloplastische und in ihrer Zusammensetzung ganz unterschiedliche Materialien. So unterscheidet man makroporöse (Porengröße > 75 µ) von mikroporösen, mit monofilamentären oder multifilamentären Komponenten. Gerade die Porengröße ist im Hinblick auf Biokompatibilität, Infektionsrisiko und der bewussten Fremdkörperreaktion im Gewebe entscheidend. Makroporöse Netze haben sich aufgrund ihrer besseren Verträglichkeit am Markt durchgesetzt.

2) Gerade in den letzten Jahren wuchs der Anspruch auf wissenschaftliche Bestandsfähigkeit therapeutischer, aber auch diagnostischer Maßnahmen. Die evidenzbasierte Medizin hat hier zu einer grundlegenden Veränderung im Wertewandel von medizinischen Strategiekonzepten geführt. Die Festlegung auf Leitlinien unterliegt heute der Bewertung aufgrund „harter“ Daten und Studien. Die höchste Evidenz ist als härtester Beweis einer Methode (Evidenzlevel 1) im Vergleich zu einem anerkannten Verfahren (= goldener Standard) zu erbringen [[7]]. Dieser Anspruch wurde, bedingt durch zunehmenden Wildwuchs neuer Technologien, auch in der Urogynäkologie gefordert.

Erschreckend ist nach wie vor, wie gering gerade der Anteil prospektiv randomisierter Untersuchungen über die neuen Techniken ausfällt (Medline: < 3 %).

Die Cochrane Database hat dennoch klare Statements über die Wertigkeit verschiedener Verfahren auf dem Boden publizierter Daten erarbeitet. Die International Society of Consultants of Incontinence (ICI) erarbeitet alle 2 Jahre ein Update zum Thema, wobei auch die verschiedenen Operationstechniken in evidenzbasierter Wertigkeit beurteilt werden [[6]].

1992 wurde aufbauend auf der Integraltheorie die TVT-Methode (Tension-free Vaginal Tape) entwickelt. Die Vorzüge der minimalen Invasivität dieses spannungsfrei gelegten Verfahrens mit hohen Erfolgsraten von 81 % nach 7 Jahren haben dieser Methode auf hohem Evidenzniveau Eingang in die Inkontinenzchirurgie von heute verschafft [[8], [9]]. Sie ist laut Cochrane Database Review dem „Standard Kolposuspension“ ebenbürtig [[9], 10]. Auch in der Therapie des Rezidivs schneidet die TVT-Methode mit 82 % nach 4 Jahren gut ab. Bei hypotoner Urethra (Urethraverschlussdruck < 20 cm H2O), die mit einem bis zu 30 % höheren Rezidivrisiko als bei normotoner Urethra einhergehen kann, hat sich die TVT-Methode mit 74 % nach 4 Jahren ebenfalls bewährt.

Die Erfolge der TVT-Methode lösten eine wahre Kettenreaktion in der Neuentwicklung anderer Bandoperationen aus. Heute stehen mehr als 20 Alternativen, mit unterschiedlichen Bändern, Applikatoren und Zugangswegen zur Verfügung.

Die TVT-Methode stellt derzeit einzig und alleine das Verfahren dar, dass mit dem Goldstandard „Kolposuspension“ prospektiv randomisiert untersucht wurde. Die Methode ist der Kolposuspension im Hinblick auf Erfolgsraten und Komplikationen ebenbürtig. Die TVT-Methode ist ein Verfahren, in dem ein Polypropyleneband um den mittleren Urethraabschnitt spannungsfrei gelegt und in engem Kontakt zur Symphyse durch das Cavum Retzii am Mons veneris ausgeleitet wird. Alternativ wurden, um die blinde retrosymphysäre Passage mit möglicher Blasenläsion zu vermeiden, Bandtechniken entwickelt, die transobturatorisch gelegt werden. Erste Untersuchungen zeigen gleich gute Erfolge wie mit der TVT-Technik, jedoch müssen Langzeitdaten abgewartet werden. Auch die in Vergleichsstudien angeführten geringeren Komplikationen der transobturatorischen Verfahren sollten nicht dazu verleiten, auf die im Rahmen der TVT-Operation stets erforderliche Zystoskopie (70-Grad-Optik) zum Ausschluss einer Blasenläsion zu verzichten.

In jedem Fall haben die Bandtechniken zu einer Wende der Inkontinenzchirurgie beigetragen. War die Kolposuspension mit ihrem abdominalen Zugang in den 80er-Jahren weltweit „die Inkontinenzoperation“, hat durch die Bandoperationen der vaginale Zugang wieder an Bedeutung gewonnen. Gerade die vaginale Technik ermutigt zur Kombination von Inkontinenzchirurgie und Prolapsoperation. Mehr und mehr setzt sich hierbei aber die zweizeitige Vorgehensweise mit primärer Rekonstruktion und wenn erforderlich sekundärer Inkontinenzoperation durch. Zum einen lassen sich hierdurch Obstruktionen (bis zu 46 % in der Literatur) eher vermeiden, auch entlohnt das DRG-Wesen zum Unterschied des zweizeitigen Vorgehens den Kombinationseingriff nicht.

Da alle am Markt befindlichen Bänder alloplastische Materialien darstellen, bleiben besonders Langzeitbeobachtungen zur Verträglichkeit abzuwarten.

Eine weitere Entwicklung, wie wohl schon seit den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts eingeführt, stellen die intra- oder periurethralen Injektionen dar. Neue Injektionsmaterialien (Dextranomer in Hyaluronsäure, Silikone) und Applikationstechniken bieten bessere Verträglichkeit und leichtere Anwendung gegenüber den älteren Produkten. Dennoch liegen die Erfolgsraten unter denen der Urethralbänder, sind allerdings weniger invasiv und eignen sich insbesondere in der Inkontinenztherapie der Rezidivinkontinenz und der älteren Patientin mit hoher Komorbidität. Es gibt auch keine guten Vergleichsstudien zu Therapiealternativen.

Wie sollen wir in der Gynäkologie dem Thema Innovationen der Inkontinenzchirurgie begegnen?

Mit der Zahl der Inkontinenzoperationen einer Patientin steigt das Rezidivrisiko, dagegen nimmt mit Zunahme an Interventionen der zeitliche Abstand zum Folgeeingriff ab. Demnach ist die Wahl des besten Verfahrens entscheidend. Ein solches Verfahren muss heute EBM-Kriterien auf höchstem Niveau erfüllen. Für neue Produkte ist demnach zu fordern, dass sie im Rahmen sauberer klinischer Studien geprüft werden, um ihnen mit gutem Gewissen Eingang in den operativen Alltag zu verschaffen.

Literatur

  • 1 Sandvik H, Hunskaar S, Seim A, Hermstad R, Vanvik A, Bratt H J. Validation of a severity index in female urinary incontinence and its implementation in an epidemiological survey.  J Epidemiol Community Health. 1993;  47 49
  • 2 Füsgen I. Kostenproblem Harninkontinenz.  J Urologie Urogynäkologie. 1998;  5 7-12
  • 3 Burch J C. Urethrovaginal fixation to Cooper's ligament for correction of stress incontinence, cystocele, and prolapse.  Am J Obstet Gynecol. 1961;  81 281-290
  • 4 Lapitan M C, Cody D J, Grant A M. Open retropubic colposuspension for urinary incontinence in women.  Cochrane Database Syst Rev. 2003;  1 CD002912
  • 5 Moehrer B, Ellis G, Carey M, Wilson P D. Laparoscopic colposuspension for urinary incontinence in women.  Cochrane Database Syst Rev. 2002;  1 CD002239
  • 6 Koelbl H, Mostwin J, Boiteux J P, Macarak E, Petri E, Schaefer W, Yamaguchi O. Pathophysiology. Incontinence. 2nd International Consultation of Incontinence. Plymouth Press Ltd 2002
  • 7 Sackett D L, Straus S, Richardson S, Rosenberg W, Haynes R B. Evidence Based Medicine. Churchill Livingstone 2000
  • 8 Nilsson C G, Falconer C, Rezapour M. Seven-year follow-up of the tension-free vaginal tape procedure for treatment of urinary incontinence.  Obstet Gynecol. 2004;  104 1259-1262
  • 9 Ward K L, Hilton P. UK and Ireland TVT Trial Group . A prospective multicenter randomised trial of tension-free vaginal tape and colposuspension for primary urodynamic stress incontinence: two-year follow-up.  Am J Obstet. 2004;  190 324-331
  • 10 Bezerra C A, Bruschini H. Suburethral sling operations for urinary incontinence in women.  Cochrane Database Syst Rev. 2001;  3 CD001754

Univ.-Prof. Dr. Heinz Kölbl

Universitätsklinik für Geburtshilfe und Frauenkrankheiten
Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

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55131 Mainz

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