Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(17): 1104
DOI: 10.1055/s-2005-866796
Pro & Contra
Diabetologie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gezielte Diabetesprävention in Risikogruppen: Contra

High risk strategy in diabetes prevention - contraU. A. Müller1
  • 1Funktionsbereich Endokrinologie & Stoffwechselerkrankungen, Klinik für Innere Medizin III, Universitätsklinkum Jena
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Publication History

eingereicht: 21.1.2005

akzeptiert: 3.2.2005

Publication Date:
19 April 2005 (online)

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Die Prävalenz des Diabetes mellitus Typ 2 steigt an. Begünstigend sind Übergewicht und Bewegungsmangel (modifizierbar), aber auch zunehmende Lebenserwartung, bessere Diagnostik und niedriger Sozialstatus (nicht modifizierbar). Der Diabetes mellitus ist eine chronische Erkrankung, die den meisten Betroffenen keine Beschwerden macht. Nach langjährig und dauerhaft erhöhten Blutglukosewerten können Folgeerkrankungen aber bei bis zu 30 % der Patienten auftreten. Das Risiko für Folgeerkrankungen ist unterhalb eines HbA1c-Wertes von 7 % minimal und steigt deutlich an, wenn der HbA1c-Wert 8 % übersteigt [5]. In der Bundesrepublik Deutschland haben 60 - 70 % der Patienten einen HbA1c-Wert unter 7 % [6].

Als Primärprävention bezeichnen wir das Hinausschieben der Diagnose Diabetes mellitus, als Sekundärprävention die Verhinderung von Folgeerkrankungen bei Patienten mit bekanntem Diabetes. Die Strategien zur Primärprävention wurden bisher nicht bei Menschen mit normalem Glukosestoffwechsel, sondern bei Risikopersonen angewendet, d. h. bei Menschen mit einer gestörten Glukosetoleranz. Diese Menschen sind völlig beschwerdefrei und gelten nicht als krank. Man könnte auch sagen, bei der Primärprävention handelt es sich um die Verminderung einer biochemischen Abnormität bei beschwerdefreien Menschen.

Die Prävention des Diabetes mellitus ist bei einigen Menschen mit gestörter Glukosetoleranz möglich durch Lifstyle-Modifikation (Bewegung, Gewichtsreduktion, Ernährungsumstellung) und Medikamente (Metformin, Acarbose). Die „number needed to teat” (NNT), um die Konversion von IGT zu Diabetes zu verhindern, betrug in der „Finnish Diabetes Prevention Study” [3] mit 522 Patienten 9,0 über 3 Jahre, und in dem amerikanischen „Diabetes Prevention Programme” [4] mit 3234 Patienten 13,9 bei Metformingabe und 6,9 bei Lifestyle-Modifikation über 2,8 Jahre. In beiden Programmen wurden engmaschige und aufwendige (Einzel-)Beratungen durchgeführt. Bei Acarbose betrug die NNT 10,0. Nach Ende der Studie entwickelten Patienten aus der Acarbosegruppe häufiger Diabetes als die Plazebogruppe [1].

Die Entwicklung der Industriegesellschaft hat den Lebensstandard kontinuierlich verbessert und die Lebenserwartung stetig erhöht. Damit untrennbar verbunden sind Abnahme von körperlicher Aktivität und Zunahme der Energieaufnahme. Dieser Lebensstil wird von den meisten Menschen akzeptiert, weil er subjektiv als angenehm empfunden wird. Änderungen dieses freiwillig gewählten Lebensstils sind sehr schwer umsetzbar. Das mussten auch die Autoren der 7.8 Jahre dauernden Steno-2-Study [2] bestätigen. Von Patienten mit bekanntem Typ-2-Diabetes und Mikroalbuminurie wurden Gewichtsreduktion und vermehrte körperliche Aktivität nicht umgesetzt, während durch medikamentöse Intervention (besserer HbA1c, besserer Blutdruck, CSE-Hemmer, ACE-Hemmer, ASS) kardiovaskuläre Endpunkte deutlich vermindert wurden. Die Motivation dieser Patienten mit bekanntem Diabetes und beginnenden Folgeerkrankungen ist ungleich höher als bei den gesunden, beschwerdefreien Patienten der Primärpräventionsstudien.

Es konnte bisher nicht gezeigt werden, dass durch Prävention des Diabetes bei Risikogruppen mikro-oder makrovaskuläre Komplikationen vermindert werden. Deshalb sollten die Resourcen (Diabetestherapie, Blutdrucktherapie, Patientenschulung, CSE-Hemmer) derzeit bei Patienten mit bekanntem Diabetes eingesetzt werden. Wenn der HbA1c nicht über 7 % steigt (eine echte Schwelle liegt allerdings nicht vor) und der Blutdruck unter 140/90 ist, können Folgeerkrankungen wirkungsvoll vermindert werden.