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DOI: 10.1055/s-2005-866983
Kommentar zum besonderen Fall im Themenheft Chronische körperliche Erkrankung
PiD Heft 1, März 2002Publication History
Publication Date:
08 September 2005 (online)
Meine Meinung zum besonderen Fall: Ich möchte einmal das Augenmerk auf die bisher nicht weiter thematisierte und wenig bekannte medizinische Diagnostik lenken. Es wird lediglich gesagt, dass umfangreiche neurologische und urologische Diagnostik betrieben worden sei, aber nicht, welche Verfahren mit welchen Ergebnissen. Ich arbeite als Psychotherapeut in einem Zentrum für Querschnittgelähmte und habe auch ab und zu Fragestellungen ähnlich wie beim vorgestellten Fall zu bearbeiten. Dabei zeigt sich bisweilen, dass die medizinischen KollegInnen manchmal vorschnell mit dem Urteil „psychisch” bei der Hand sind, lediglich weil die erwarteten handfesten oder eindeutigen Befunde bisher ausgeblieben sind.
Ein Beispiel: 19 Jahre junge Frau, gerade Schulausbildung beendet, hat auf der Treppe im Elternhaus einen Kollaps, bricht zusammen und stürzt mit dem Rücken an das Treppengeländer, kann spontan die Beine nicht mehr bewegen und wird mit dem Hubschrauber in die Klinik transportiert. Hier findet man im Kernspin keine Raumforderung, keinen Bandscheibenvorfall, keine Fraktur, keine Schwellung des Rückenmarks wie nach einer traumatischen Verletzung. Allein die Tatsache, dass die junge Frau etwas übergewichtig ist und nicht in fester Partnerschaft lebt, macht sie für die Kollegen suspekt.
Der neurologische Befund war wie folgt: Iliopsoas und Quadrizeps um 2/3 bds., Unterschenkel-/Fußmuskulatur nicht sicher bewegt, Sphincter ani externus leicht angespannt. Die Untersuchung wird verspürt, Hypästhesie/-algesie unterhalb Th 12, Analgesie in L 4, darunter wieder Hypalgesie. QR und TSR +/+ (+). Babinski bds. suspekt mit Zehenbeugung. Es sind also eindeutige Zeichen einer inkompletten QL nach einer Commotion spinalis vorhanden, trotzdem wurde die Patientin an mich überwiesen mit der Fragestellung, eine Somatisierungsstörung zu behandeln.
Dieses „prophylaktisch Ausschlussbefunde erheben” ist unter den Somato-Medizinern ein durchaus übliches Verfahren, bei bislang noch unklarer Diagnose die Hypothese „vielleicht psychisch - lassen wir mal prüfen …” aufzustellen und an den psychologischen Dienst zu überweisen, ohne die nötige Sorgfalt bei der Prüfung der somatischen Befunde walten zu lassen. Das ist nicht unproblematisch.
Wir haben immer wieder Patienten bei uns mit handfesten Symptomen, wobei sich dann im Nachhinein herausstellt, dass entweder eine seltene Form einer Infektion des Rückenmarkes vorliegt, wobei der Nachweis im Nachhinein extrem schwierig bis unmöglich ist, oder eine andere, auch extrem seltene Störung vorgelegen hat (Durchblutungsstörung, Einblutung, Commotion spinalis, Spinalis-anterior-Syndrom, o. Ä.).
Im Extremfall passiert Folgendes (aktuelle Patientin): Patientin, 36 Jahre alt, übergewichtig, Thrombose im linken Bein vor zwei Jahren, seitdem markumarbehandelt, psychotherapeutisch wegen depressiven Zusammenbruchs seit einem Jahr in Behandlung, ruft mehrfach den Notarzt wegen zunehmend aufgetretener Lähmung in den Beinen. Patientin wird wegen der Unklarheit der Beschwerden zweimal vom jeweiligen Notarzt mit Tavor versorgt. Beschwerden steigen an, Patientin besteht auf Aufnahme in Klinik. Dortige Ärzte nehmen oberflächliche Untersuchung vor, Patientin wird als „psychisch” eingeordnet. Man lässt sie dort eine Nacht lang liegen, nimmt keine weitere Diagnostik vor. In der Nacht entwickelt sie zunehmende Lähmungen, jetzt wird auch die Blase mitbetroffen. Beim dann angefertigten Kernspin stellt man eine Einblutung in den Spinalkanal fest, die die Ursache der Lähmungen ist (seltene, aber bekannte Nebenwirkung bei Markumar …). Es wird dann notfallmäßig operiert, die Lähmung ist bis heute zwar inkomplett und in Rückbildung begriffen, aber fraglich wieweit.
Für mich ist bei solchen Fragestellungen immer wichtig, wie die Motivation der Betroffenen ist. Bei der erstgenannten jungen Frau war das Erstaunen über mein Erscheinen groß, und ich konnte eine größere Irritation und Kränkung der Patientin nur vermeiden, indem ich betonte, dass ich routinemäßig bei ihr reinschaue, da ich alle neuen Patienten aufsuche und mich vorstelle (was der Wahrheit entspricht). Es ist naturgemäß mit einer Kränkung verbunden, wenn sich in so einer Situation der Psychologe zeigt, weil es dafür laienhaft nur die Erklärung geben kann: „man glaubt mir nicht!” - und das ist ja faktisch auch der Fall. Genauere Anamneseerhebung ist dann auch unmöglich, weil es für eine vertiefende Befragung über familiäre und soziale Hintergründe kaum eine rationale Erklärung gibt, es sei denn, der/die PatientIn ist selbst aus anderen Gründen an einer psychotherapeutischen Zusammenarbeit interessiert. Ist das nicht der Fall, haben die medizinischen Kollegen durch die Vorgehensweise beim Patienten eine Behandlungsdefinition installiert, die da heißt: „ich werde hier als ,psychisch‘ geführt”. Da ist dann schnell ein großer Teil Vertrauen in ärztliches und therapeutisches Handeln beschädigt, und zwar nicht nur für die aktuelle, sondern auch für mögliche weitere Behandlungsmaßnahmen.
In dem vorliegenden Fall, der in PiD geschildert wurde, hat die Betroffene eine Blasen- und Darmlähmung. Ich habe bisher in den Fällen, die für mich glaubhaft eine Somatisierungsstörung hatten, noch nie eine vollständige Blasenlähmung im Zusammenhang mit der Lähmung der Beine erlebt. Es waren immer komplette oder inkomplette Lähmungen mit diffus eingrenzbarer Lähmungshöhe, wobei Blase und Darm regelhaft ungelähmt waren. Das ist nicht weiter verwunderlich. Die Blasenentleerung ist in komplexer Weise an verschiedene Muskelgruppen gebunden, für das Funktionieren ist eine zeitlich wohl koordinierte Steuerung aus den unteren Rückenmarkszentren zuständig. Die Somatisierung einer Lähmung in diesem Bereich ist nach meiner Erfahrung extrem selten, schwierig und ist v. a. durch eine urodynamische Untersuchung leicht feststellbar. Hier wird die Funktion der einzelnen Muskeln, die die Entleerung steuern oder behindern, sichtbar gemacht. Diese erfordert aber einen speziellen, teuren Messplatz, der nicht in jeder Klinik vorgehalten wird, sondern oft nur speziellen Zentren vorbehalten ist. Von daher würde mich der Befund der Urologen sehr interessieren, da hierdurch der Verdacht auf die Somatisierungsstörung leicht bestätigt oder verworfen werden kann.
Wie auch immer die urodynamische Diagnostik ausfällt, würde ich zunächst viel Wert darauf legen, dass es zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit einer ausdrücklichen Klärung der Therapierationale kommt, wobei dann entweder der Fokus auf der nachzuholenden Trauerbewältigung für den Tod des Sohnes und evtl. des damaligen Bräutigams liegt, wie ihn Herr Senf beschrieben hat, oder auf der Bearbeitung der augenscheinlich als Fassade genutzten Scheinautonomie. Ich stimme übrigens auch der Einschätzung eines relativ starken Ichs zu, da die Patientin bisher ihr Leben bewältigt hat, auch wenn einiges im Sinne von Abwehrleistungen zu verstehen ist. Ansonsten ist eine mögliche Vorgehensweise schon gut beschrieben worden.
Hanno Kock, Hamburg