PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(3): 237
DOI: 10.1055/s-2005-867000
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychotherapie in der Psychiatrie

Wolfgang  Senf, Ulrich  Streeck
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Publication Date:
08 September 2005 (online)

Seit der neuen Weiterbildungsordnung für Ärzte, 1992 auf dem Ärztetag in Köln verabschiedet, ist die Psychotherapie verbindlich mit der Psychiatrie verknüpft. Das dokumentiert sich in der Gebietsbezeichnung Psychiatrie und Psychotherapie sowie in den curricular festgeschriebenen Anforderungen an eine psychotherapeutische Qualifikation. Damit ist die Psychiatrie aber auch in Konkurrenz getreten zu anderen Fächern und Professionen, die sich der Psychotherapie bis dahin gewidmet haben und auch weiter widmen werden. Zu nennen sind hier die psychologischen Psychotherapeuten und das ebenfalls auf dem Ärztetag 1992 verabschiedete Fachgebiet Psychotherapeutische Medizin, heute Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Vor allem zwischen den Fächern Psychiatrie und Psychotherapie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie tobt ein immer heftiger werdender Streit und Kampf um die Psychotherapie. Die Vertreter der einen Profession werfen den Vertretern der anderen vor, ihnen das wegzunehmen und unberechtigter Weise für sich zu reklamieren, was eigentlich zum eigenen Fach gehöre. Dabei wird vor allem heftig um die Zuordnungen von ICD-10-Diagnosen gestritten, ohne dabei zu reflektieren, dass eine solche Zuordnung nicht besonders geeignet ist, die Patienten abzubilden, für die eine Psychotherapie angezeigt ist, und die differenziellen psychotherapeutischen Kompetenzen dieser verschiedenen Fachgebiete zu dokumentieren.

Dieser unnötige Streit ist nicht Gegenstand dieses Heftes. Gleichwohl wollen wir mit diesem Heft durchaus einseitig aufzeigen, dass die Psychotherapie gut verankert ist in der psychiatrischen Praxis, und dass „die Psychiater” bereit sind, sich tief auf die Konflikte und Beziehungsprobleme ihrer Kranken einzulassen. Allerdings darf nicht verleugnet werden, dass es die Psychotherapie immer auch schwer hatte, und leider zu oft auch noch hat, sich die ihr zustehende Geltung zu verschaffen in Konkurrenz zu einer psychiatrischen Praxis, welche mehr die Biologie und die daraus resultierenden therapeutischen Möglichkeiten in den Vordergrund stellt. Eine nicht unwichtige Rolle dabei spielt die Tatsache, dass mit der Psychotherapie nicht so recht eine Karriere zu machen ist, zumindest an den Universitäten.

S. Freud hat die Psychotherapie in seinen Schriften 1905 als „Seelenbehandlung” bezeichnet, und er schreibt: „Man könnte also meinen, dass darunter verstanden wird: Behandlung der krankhaften Erscheinungen des Seelenlebens. Dies ist aber nicht die Bedeutung dieses Wortes. Psychische Behandlung will vielmehr besagen: Behandlung von der Seele aus, Behandlung - seelischer oder körperlicher Störungen - mit Mitteln, welche zunächst und unmittelbar auf das Seelische des Menschen einwirken. Ein solches Mittel ist vor allem das Wort, und Worte sind auch das wesentliche Handwerkszeug der Seelenbehandlung”.

Wie steht es mit dem Handwerkszeug der Seelenbehandlung in Psychiatrie, in der Akutpsychiatrie, bei der Behandlung der Schizophrenie, bei Anfallsleiden oder bei Demenzkranken? Und Straftäter mit schweren Vergehen: Wäre es nicht besser, sie „wegzusperren”, oder kann man sie vielleicht doch psychotherapeutisch beeinflussen?

Dieses Heft zeigt auf, wo Psychotherapie bei ausdrücklich „psychiatrischen” Erkrankungen Bestandteil psychiatrischer Praxis ist und, jenseits aller Streitigkeiten, hoffentlich bleiben wird. Die Beiträge in diesem Heft verdeutlichen, dass die Psychiatrie ein weites Spektrum der Seelenbehandlung zu bieten hat mit einem sehr differenzierten Handwerkszeug. Zudem finden sich in vielen Versorgungsgebieten Netzwerke, wie das Psychiatrie-Psychotherapienetz Duisburg und das Heidelberger Frühbehandlungszentrum für die gemeinsame Behandlung von adoleszenten Patienten durch die Erwachsenen- und Kinder- und Jugendpsychiatrie, die neue Wege erproben. Sie stehen als Beispiele für viele Ansätze und Projekte kreativer Psychiater und Psychiaterinnen.

Wie ist die obige Aussage gemeint, dass Psychotherapie hoffentlich Bestandteil psychiatrischer Praxis bleiben wird? Wir sind wegen des Trends zur Ökonomisierung in der Gesundheitspolitik besorgt. Es ist nicht zu übersehen, dass die Psychotherapie vor allem in der stationären Anwendung zunehmend beschnitten wird und auch diskreditiert wird. Statt das Handwerkszeug der Seelenbehandlung anwenden zu können, werden personelle Ressourcen dadurch gebunden, dass die Kostenübernahmen für die stationäre Anwendung von Psychotherapie durch die Krankenkassen mit dem Argument verweigert werden, das alles sei doch Rehabilitation und keine Krankenbehandlung. Es wäre sinnvoller, den unsinnigen Streit zwischen den verschiedenen Fächern zu beenden, um sich gemeinsam dafür stark zu machen, dass die Seelenbehandlung für unsere psychiatrisch und psychosomatisch kranken Patienten auf dem jetzigen Niveau bestehen bleibt. Dazu möchte dieses Heft einen Beitrag leisten.