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DOI: 10.1055/s-2005-867001
Das weite Feld einer psychiatrischen Psychotherapie
Publication History
Publication Date:
08 September 2005 (online)
Wenn die Beiträge in diesem Heft irgendein Fazit nahe legen, dann mit Sicherheit das, dass Psychotherapie in der Psychiatrie eine große Vielfalt von Anwendungsbereichen hat und dass es vielfältiger psychotherapeutischer Verfahren und therapeutischer Techniken bedarf, um den besonderen Belangen psychiatrisch kranker Patienten und auch ihrer Angehörigen angemessen Rechnung zu tragen.
Psychotherapie in der Psychiatrie ist - das spiegeln die Beiträge fast ausnahmslos wider - nicht dadurch realisierbar, dass ein Verfahren der Richtlinien-Psychotherapie mit ihren Vorgaben und mehr oder weniger starren Reglementierungen in die psychiatrische Krankenversorgung nur importiert wird. In der psychiatrischen Praxis würde das zu großen organisatorischen Schwierigkeiten führen; in der psychiatrischen Klinik wäre das keine Integration von Psychotherapie in die Psychiatrie, sondern allenfalls eine Hinzunahme umschriebener psychotherapeutischer Verfahren zu anderen, meist biologisch ausgerichteten Behandlungsmaßnahmen.
Dabei kann die Therapie sehr vieler Patienten in der Psychiatrie mit psychotherapeutischen Behandlungsansätzen maßgeblich unterstützt und verbessert werden, aber eben nicht oder nur begrenzt dann, wenn die Psychotherapie primär an methodischen Gesichtspunkten orientiert ist. In der psychiatrischen Patientenversorgung ist mehr Flexibilität im Hinblick auf psychotherapeutisches Vorgehen vonnöten als die Richtlinien-Psychotherapie das zulässt. Psychotherapeutische Ansätze müssen in der Psychiatrie möglichst individuell auf die besonderen Bedingungen des einzelnen Patienten und seiner Erkrankung abgestimmt und die standardisierten psychotherapeutischen Verfahren entsprechend modifiziert und angepasst werden.
Psychotherapie in der Psychiatrie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist historisch eine vergleichsweise späte Erscheinung in der Behandlung psychiatrisch kranker Patienten, und sie wird gelegentlich auch heute noch im Vergleich zu biologisch-psychopharmakologischen Ansätzen gegen alle Empirie fälschlicherweise als zweitrangig angesehen. Psychiater, für die Psychotherapie eine wichtige Bedeutung hat und die sich dessen bewusst sind, dass sie ihre Patienten nicht gut behandeln, wenn sie für die Therapie nur Mittel einsetzen, die auf körperliche Prozesse einwirken, zeigen manchmal einen beachtlichen Ideen- und Einfallsreichtum, um in ihren Praxen mit psychotherapeutischen Mitteln auf ihre Patienten einwirken zu können, vor allem auf Patienten, die mit den üblichen psychotherapeutischen Methoden schwer zu erreichen sind. Das betrifft den Umgang mit den psychotherapeutischen Verfahren selbst, das betrifft aber auch die Mittel und Wege, mit deren Hilfe es gelingen kann, in einen sinnvollen therapeutischen Kontakt mit ihren Patienten zu kommen, und das betrifft die Praxisorganisation, die oftmals an die besonderen Erfordernisse verschiedener Patientengruppen angepasst werden muss.
Die psychotherapeutischen Mittel, die in der psychiatrischen Praxis - oft auf dem Hintergrund langjähriger therapeutischer Erfahrung - eingesetzt werden, sind häufig nicht standardisiert und in vielen Fällen wohl auch nicht zu standardisieren, gleichwohl nützlich und effektiv, und die Patienten können sich dadurch in wichtiger Weise unterstützt fühlen. Dabei scheint es umso eher möglich zu sein, auch zu ungewöhnlichen Mitteln und Wegen für die psychotherapeutische Arbeit mit schwierigen psychiatrischen Patienten zu greifen, je sicherer das psychotherapeutische Selbstverständnis und die psychotherapeutische Kompetenz in einer bewährten Methode verankert sind. Das schützt nicht zuletzt auch vor Beliebigkeit und Willkür und davor, jedwede Aktivität und jede Art von Zuwendung schon für Psychotherapie zu halten. Statt sich angesichts des Mangels an Methodenkonformität mit den eigenen kreativen Lösungen zu verstecken, die für die psychotherapeutische Arbeit mit äußerst schwierigen Patienten in der psychiatrischen Praxis gefunden wurden, wäre es förderlicher, sie im Hinblick auf ihre Wirkung zu erforschen, um sie für die psychotherapeutische Versorgung dieser Patienten nutzbar machen zu können.
Chronisch schizophrene Patienten können von Psychotherapie ebenso profitieren wie Patienten mit bipolaren Störungen, opiatabhängige Patienten ebenso wie Demenzkranke, epilepsiekranke Patienten und psychisch kranke Straftäter. Und nicht nur für die Patienten selbst sind individuell abgestimmte psychotherapeutische Behandlungsansätze, die sich an bewährten psychotherapeutischen Konzepten und Methoden orientieren und darin gründen, hilfreich und nützlich, und nicht nur für viele ihrer Angehörigen, sondern psychotherapeutische Perspektiven können auch wertvolle Ergänzungen für die Gestaltung institutioneller Bedingungen in der Psychiatrie sein.
Angesichts der weiten Anwendungsfelder von Psychotherapie in der Psychiatrie und angesichts der großen Vielfalt von psychotherapeutischen Behandlungsansätzen, die für psychiatrisch kranke Patienten erforderlich und in den verschiedenen Institutionen der Psychiatrie nützlich sind, erscheinen uns - und damit kommen wir noch einmal zurück auf unser Editorial - die heftigen berufspolitischen Streitigkeiten um Zuständigkeiten im Feld psychotherapeutisch behandlungsbedürftiger Patienten umso unnötiger und unverständlicher. Die Psychotherapie hat sich außerhalb der Psychiatrie entwickelt, weil die Psychiatrie ihren Blick über lange Zeit hinweg nur auf das Gehirn und seine Biologie gerichtet hat - und sie tut das angesichts des modischen, aber gewinnträchtigen Überbordens eines häufig undifferenzierten neurobiologischen Denkens manchmal auch heute wieder. Dabei wurde - insbesondere in der an den Universitäten repräsentierten Psychiatrie - oftmals versäumt, psychotherapeutische Neu- und Weiterentwicklungen anzuregen, zu fördern und zu verbreiten, die spezifisch für psychiatrisch kranke Patienten geeignet sind. Das hat dazu geführt, dass auch die maßgeblichen Weiterentwicklungen der psychotherapeutischen Methoden und deren Ausdifferenzierung zu der Vielfalt, die sie heute auszeichnen, sich außerhalb der Psychiatrie vollzogen haben.
Dieses Versäumnis hat Spuren hinterlassen: So gibt es zwar Psychotherapie in der Psychiatrie, aber von so etwas wie einer spezifischen psychiatrischen Psychotherapie oder psychotherapeutischen Psychiatrie kann bis heute allenfalls in Ansätzen die Rede sein. Entsprechend groß ist hier der Nachholbedarf. Dessen Erfüllung ist allerdings mit der Hypothek belastet, dass es keine mächtige Industrie gibt, die psychotherapeutischen Entwicklungen in der Psychiatrie den Rücken stärkt, und auch Forschungsgelder, die für die Evaluation universitärer Einrichtungen wichtig sind, sind für psychotherapeutische Ansätze heute nur noch schwer zu bekommen.
Auf diesem Hintergrund haben uns die Beiträge in diesem Heft in unserem Appell bestärkt, den wir ebenfalls schon im Editorial formuliert haben und der hier noch einmal wiederholt sei, dass es nämlich statt sich zu bekriegen weit sinnvoller wäre, wenn die in der Psychotherapie Tätigen sich zusammenschlössen und gemeinsam dafür sorgten, dass psychotherapeutische Ansätze in der Psychiatrie nicht nur erhalten bleiben, sondern so weiterentwickelt werden, wie das für die psychotherapeutische Versorgung vieler Patientengruppen in der Psychiatrie, die ihrer bedürfen, angemessen und hilfreich wäre. Wie lohnend es sein kann, sich mit der psychotherapeutischen Unterstützung und Behandlung auch schwierigster und schwer gestörter Patienten in der Psychiatrie zu beschäftigen, dafür legt dieses Heft unseres Erachtens beredtes Zeugnis ab.