Psychiatr Prax 2005; 32(8): 378-380
DOI: 10.1055/s-2005-867069
Debatte
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Pro und Kontra: Indikationsausweitung der Elektrokrampftherapie

For and Against: Broader Indication of Electroconvulsive Therapy
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Publication Date:
24 November 2005 (online)

Pro

Francesca Regen, Malek Bajbouj, Ion Anghelescu

Nach den Leitlinien verschiedener psychiatrischer Fachgesellschaften zur Behandlung affektiver Erkrankungen stellt die Elektrokrampftherapie (EKT) im Allgemeinen eine Behandlungsoption der zweiten Wahl dar. So wird nach den Empfehlungen der DGPPN die EKT bei schweren, insbesondere wahnhaften (uni- und bipolaren) Depressionen oder manischen Episoden bei Nichtansprechen auf eine Pharmakotherapie oder Kontraindikationen gegen eine medikamentöse Behandlung eingesetzt; in den Empfehlungen zur Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe findet EKT keine Berücksichtigung [1]. In den Leitlinien des National Institute for Clinical Excellence (NICE) wird der Einsatz der EKT noch zurückhaltender formuliert, von einer EKT als Erhaltungstherapie wird abgeraten [2]. Diese eher restriktive Haltung zum Einsatz der EKT beruht vermutlich auf Unsicherheiten und Ängsten im Laien- aber auch Behandlerkreis bezüglich möglicher Nebenwirkungen, aber wohl auch auf der häufig schlechten Reputation sowie falschen Vorstellungen über Kosten und Aufwand der Behandlung.

Im Gegensatz zu den Empfehlungen beispielsweise der DGPPN und den NICE-Richtlinien wird in der Stellungnahme der Bundesärztekammer die EKT auch als „Therapie der ersten Wahl” genannt, u. a. bei wahnhaften Depressionen, depressivem Stupor und schweren depressiven Episoden mit Suizidalität [3]. Wir halten einen solchen, frühzeitigen Einsatz von EKT bei noch nicht vorhandener Therapieresistenz im Sinne eines „first-line treatment” bei depressiven Störungen für sinnvoll, da ein zu langes Warten die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer Therapieresistenz erhöht, diese Zeit mit unnötigem Leid für den Patienten verbunden ist und letztendlich zu einem schlechteren Ansprechen auf alle weiteren Therapieformen führen kann [4]. Diese Auffassung von EKT als Behandlungsoption der ersten Wahl wird auch von der American Psychiatric Association (APA) geteilt, die folgende Indikationen für den Ersteinsatz einer EKT propagiert:

wenn schnelles Ansprechen erforderlich ist, andere Behandlungsverfahren mit einem höheren Risiko verbunden sind als EKT, bei früherer Non-Response auf andere Verfahren oder guter Response auf EKT, bei Patientenpräferenz 5.

Eine weitere Möglichkeit zur Ausweitung des Indikationsbereichs der EKT ergibt sich aus der Definition des Schweregrades einer depressiven Störung, ab der eine EKT als sinnvoll erachtet wird. Wird EKT bereits bei mittelschweren Depressionen eingesetzt, ist die Wahrscheinlichkeit eines Ansprechens größer als bei schwereren Episoden und der Wirkungseintritt erfolgt rascher. Möglicherweise sind insgesamt weniger Anwendungen notwendig, was sich wiederum positiv auf Kosten und Verträglichkeit der Behandlung auswirkt. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Remission, die - wie aus verschiedenen Medikamentenstudien deutlich wurde - die Gesamtprognose deutlich verbessert, bei einem frühen Einsatz von EKT größer. Positive klinische Erfahrungen haben wir in Einzelfällen auch bei Patienten gemacht, die bei einer „zähen” persistierenden Kernsymptomatik auf andere Maßnahmen nur partiell angesprochen haben und typischerweise einen nur geringen, entsprechend psychometrischer Skalen abgebildeten Gesamtschweregrad der depressiven Symptomatik aufweisen. Diese Patienten zeigen dennoch einen hohen Leidensdruck und eine geringe psychosoziale Belastbarkeit, so dass der Einsatz einer EKT gerechtfertigt erscheint und auch häufig erfolgreich ist.

Aufgrund der hohen Rückfallgefahr nach initialem Ansprechen auf EKT, liegt die Empfehlung einer Erhaltungs-EKT bei depressiven Störungen nahe. Da man keine antidepressive Therapie zum Zeitpunkt der maximalen Wirkung beenden würde, gerade diejenigen Patienten, die EKT erhalten, zuvor meist auf mehrere medikamentöse Behandlungsversuche nicht respondiert haben sowie eine höhere Rückfallwahrscheinlichkeit zeigen und sich somit die Wahl eines geeigneten rückfallprophylaktischen Medikamentes schwierig gestaltet, ist die Durchführung von Erhaltungs-EKTs häufig unumgänglich und „das eigentlich evidente Vorgehen” [6]. Eine Erhaltungsbehandlung mit EKT wird jedoch zu selten in Erwägung gezogen. Eine alleinige medikamentöse Erhaltungstherapie ist einer Kombination aus medikamentösem Rückfallschutz plus EKT unterlegen [7]. In einer Fallserie an unserer Klinik konnte ebenfalls eine erhöhte Rezidivneigung bei ausschließlich medikamentös nachbehandelten Patienten gefunden werden. Ungeklärt sind jedoch die ideale EKT-Frequenz (z. B. monatlich) und die Gesamtdauer der Anwendungen. Wir schließen uns der Meinung der APA an, die eine Erhaltungs-EKT bei anamnestischem Ansprechen auf EKT, Wunsch des Patienten oder Nichtansprechen auf eine Pharmakotherapie (in der Indexepisode oder auch in der Erhaltungstherapie) bzw. bei Unverträglichkeit einer Pharmakotherapie empfiehlt [5]. Eine Überprüfung des Ansprechens auf diese Behandlung sollte nach 6 Monaten erfolgen.

Eine weitere wichtige Indikationserweiterung betrifft psychiatrische Komorbiditäten (sowohl Achse-I- als auch Achse-II-Störungen nach DSM) mit depressiven Störungen. Gerade bei gleichzeitigem Vorliegen von Zwangs- oder Angststörungen kann der Einsatz von EKT auch auf die komorbide Störung einen positiven Einfluss haben. Obwohl das gleichzeitige Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung (insbesondere Borderline-Persönlichkeitsstörung) den Behandlungserfolg einer EKT eher schmälert und per se keine Indikation dafür darstellt, halten wir auch aus eigener Erfahrung die Anwendung einer EKT bei gleichzeitig vorliegender schwerer Depression für sinnvoll, wenn eine medikamentöse Vorbehandlung keinen Erfolg brachte [8]. In diesem Zusammenhang sollte auch die Möglichkeit einer „Auflösung” von scheinbaren Persönlichkeitsakzentuierungen unter konsequenter antidepressiver Behandlung bedacht werden [8].

In Anbetracht der klinischen Erfahrung sowie der Studienergebnisse zur Wirksamkeit und Verträglichkeit der EKT in der Behandlung affektiver Störungen [9] [10] ist das Indikationsfeld für EKT erweiterbar. Die EKT stellt jedoch kein psychiatrisches „Allheilmittel” dar, das ubiquitär einsetzbar ist. Zusammenfassend erscheint uns eine Anwendung bereits zu einem früheren Behandlungszeitpunkt, bei mittelschweren depressiven Episoden, zur Erhaltungstherapie und Rückfallprophylaxe affektiver Störungen nach Therapieerfolg durch EKT sowie bei Vorliegen auch komorbider Achse-I- oder Achse-II-Störungen durchaus erwägenswert. Wir halten die Ansichten der APA und Bundesärztekammer mit ihrer relativ weiten Auslegung der Anwendungsgebiete für die EKT für sinnvoll und plädieren - nach ausgiebiger individueller Nutzen-Risiko-Abwägung - für eine breitere Akzeptanz dieser effektiven Behandlungsmethode.

Francesca Regen
Charité, Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin
Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie
Eschenallee 3, 14050 Berlin
E-mail: francesca.regen@charite.de

Literatur

  • 1 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Hrsg) .Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie, Band 5: Behandlungsleitlinie Affektive Erkrankungen. Darmstadt; Steinkopff 2000
  • 2 National Institute for Clinical Excellence (NICE) .Guidance on the use of electroconvulsive therapy (2003). http://www.nice.org.uk
  • 3 Bundesärztekammer . Stellungnahme zur Elektrokrampftherapie (EKT) als psychiatrische Behandlungsmaßnahme.  Deutsches Ärzteblatt. 2003;  100 (8) 504-506
  • 4 Maletzky B M. The first-line use of electroconvulsive therapy in major affective disorders.  J ECT. 2004;  20 (2) 112-117
  • 5 A Task Force Report of the American Psychiatric Association .The Practice of Electroconvulsive Therapy: Recommendations for Treatment, Training and Privileging 2001. 
  • 6 Sartorius A, Henn F A. Treating depressive disorders with continuation electroconvulsive therapy. Nervenarzt 2005 Jul 13
  • 7 Gagne Jr G G, Furman M J, Carpenter L L, Price L H. Efficacy of continuation ECT and antidepressant drugs compared to long-term antidepressants alone in depressed patients.  Am J Psychiatry. 2000;  157 (12) 1960-1965
  • 8 DeBattista C, Mueller K. Is electroconvulsive therapy effective for the depressed patient with comorbid borderline personality disorder?.  J ECT. 2001;  17 (2) 91-98
  • 9 Husain M M, Rush A J, Fink M, Knapp R, Petrides G, Rummans T, Biggs M M, O'Connor K, Rasmussen K, Litle M, Zhao W, Bernstein H J, Smith G, Mueller M, McClintock S M, Bailine S H, Kellner C H. Speed of response and remission in major depressive disorder with acute electroconvulsive therapy (ECT): a Consortium for Research in ECT (CORE) report.  J Clin Psychiatry. 2004;  65 (4) 485-491
  • 10 UK ECT Review Group . Efficacy and safety of electroconvulsive therapy in depressive disorders: a systematic review and meta-analysis.  Lancet. 2003;  361 (9360) 799-808
  • 11 Folkerts H. Elektrokrampftherapie: Monitoring Effektivität und pathischer Aspekt. Monografien aus dem Gesamt der Psychiatrie. Darmstadt; Steinkopff 1999
  • 12 Folkerts H. Wissenschaftliche Untersuchung zur Steigerung von Effizienz und Verträglichkeit der Elektrokonvulsionstherapie. In: Baghai TCR, Kasper S, Möller HJ (Hrsg) Elektrokonvulsionstherapie. Wien; Springer 2004