Zusammenfassung
Dass die evidenzbasierte Medizin (EBM) nur aus randomisierten, kontrollierten Studien
(RCTs) besteht, ist ein Trugschluss. In manchen Situationen lässt sich dieses Werkzeug
gar nicht einsetzen, so dass der Blickwinkel zur Gewinnung medizinischer Evidenz weiter
zu fassen ist. Jedes Studiendesign hat Stärken, aber auch Limitationen: Doppelblind
durchgeführte RCTs bieten die einzigartige Möglichkeit, die Wirksamkeit neuer Behandlungen
zu analysieren. Infolge der Selektion der Studienpatienten und -zentren herrscht aber
in diesen Studien oft kein „Real Life”, so dass sie möglicherweise keine (verlässliche)
Vorhersage der Wirksamkeit unter klinischen Alltagsbedingungen erlauben. Die Studiensituation
in Beobachtungsstudien entspricht dem wirklichen Leben eher. Beobachtungsstudien mit
gutem Design kommen im überwiegenden Teil der Fälle zu vergleichbaren Ergebnissen
wie RCTs, sind allerdings nur bei medizinischen Verfahren durchführbar, die schon
in der täglichen Routine eingesetzt werden. Die Qualität von Beobachtungsstudien lässt
sich durch verschiedene Maßnahmen verbessern: definierte Einschlusskriterien, Erfassung
von zahlreichen Basisdaten und Daten zu möglichen Confoundern, Adjustierung von festgestellten
Gruppenungleichgewichten mit statistischen Methoden, große Patientenzahlen, lange
Beobachtungszeit und „harte” Endpunkte. Das so genannte retrolektive Design - eine
besonders sorgfältig durchgeführte epidemiologische Kohortenanalyse - berücksichtigt
diese Maßnahmen. Es handelt sich dabei um eine prospektive Beobachtungsstudie, deren
Beginn in die Vergangenheit gelegt wurde und in der vorhandene Praxis- oder Krankenkassendaten
analysiert werden, und zwar in großem Umfang und vergleichsweise kurzer Zeit. Zwei
Studien aus dem Bereich Diabetes mit retrolektivem Design - eine zur Gewichtsentwicklung
unter oralen Antidiabetika und eine zum Effekt der Blutzuckerselbstkontrolle mit überraschendem
Ergebnis - werden vorgestellt.
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Prof. Dr. med. Stephan Martin
Deutsche Diabetes Klinik, Deutsches Diabetes-Zentrum, DDZ, Leibniz-Zentrum für Diabetesforschung
an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Auf’m Hennekamp 65
40225 Düsseldorf