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DOI: 10.1055/s-2005-872567
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Genitaler Schmerz bei Frauen[*]
Publication History
Publication Date:
02 January 2006 (online)
Zur Entwicklung des Körperbildes
„Der eigene Körper wird vom Ich ständig kaum bewusst wahrgenommen, in einer Art stiller Präsenz ist er wie ein unauffälliger Begleiter” ([5] S. 1). Der Körper ist demnach ein integrierter Teil des gesamten Selbst. Grundlage für diese Integration ist eine zugewandte und stimulierende Umwelt in den ersten Lebensjahren, die wesentlich zur „Inbesitznahme der eigenen Körperlichkeit” ([13] S. 386) beiträgt. Mertens spricht von einem „körperlichen Handlungsgedächtnis” ([9] S. 55), das die sensomotorischen und affektiven Erfahrungen speichert, die dem Kind durch die Pflegeperson zuteil werden. Dabei wirkt sich auch die Einstellung der Pflegeperson zu ihrem eigenen Körper, zu ihrer eigenen Sexualität und zur Sexualität des anderen Geschlechts auf den körperlichen Umgang mit dem Neugeborenen aus [13]. Bedeutsam in dieser Hinsicht ist ferner, ob es sich um ein Wunschkind handelt oder nicht. Die frühen Körpersensationen beim Wickeln, Baden, Eincremen und Liebkosen sind wichtige äußere Stimuli, die Hirsch ([6] S. 303) für den Säugling als „den Beginn der Symbolisierung, des Begreifens seiner selbst, des Körpers und der Umgebung in Vorstellungen und Symbolen” bezeichnet. Die taktilen und visuellen Reizerfahrungen sind nach Hirsch Voraussetzung für die spätere „Integration eines Gesamtkonzepts, eines Kontinuums der Repräsentanten […] von Selbst, Körperselbst und äußeren Objekten”, die sich zu einer übergeordneten Einheit des „Selbst-Körperselbst-Gefühls” verbinden ([5] S. 4). Dieses beinhalte sowohl das Einssein mit dem wie auch eine Beziehung zum eigenen Körper. Das Selbst-Körperselbst-Gefühl ist störanfälliger, wenn es in der Differenzierungsphase zu traumatischer Überstimulierung durch innere und äußere Reize gekommen ist oder die „mütterliche Umgebung” ungenügend war. Im Falle leichterer oder schwererer Erkrankungen zeigt sich, wie rasch Selbst und Körperselbst auseinander fallen können und der Körper (wieder) als äußeres Objekt erlebt werden kann [5].
In Zuständen von Schmerz oder anders gearteten Missempfindungen, wie z. B. Hautjucken, erhält der Körper größere Aufmerksamkeit und wird „als etwas vom Ich Getrenntes, als Objekt des Ich” wahrgenommen ([5] S. 1). Diese erhöhte Aufmerksamkeit kann sich, ausgehend von an sich nicht ungewöhnlichen Körpersensationen, so sehr steigern, dass der Körper schließlich „als einziges Objekt des Ich” übrig bleibt (ebd.). Es entsteht folglich eine Kluft zwischen Körper und beobachtendem Ich, zwischen Körperselbst und übrigen Selbstanteilen.
Diese Körper-Selbst-Dissoziation kann einerseits aus der tiefen Verunsicherung im Gefolge einer schweren Erkrankung resultieren, bei der die betroffene Person, die sich mit der Nicht-Intaktheit und Vergänglichkeit des eigenen Körpers konfrontiert sieht, sich durch die Desintegration des Körperselbst zu schützen sucht. Sie kann aber auch auf eine frühe Mutter-Kind-Dyade zurückzuführen sein, in der „sowohl durch einen Mangel an primärer Mütterlichkeit sowie durch mütterliche Überaktivität im Sinne der Überstimulierung eine Integration des Körperselbst nicht gelang” ([4] S. VIII). Nach Kutter dient die Körper-Selbst-Dissoziation unter solchen Voraussetzungen dann der Abwehr und Kompensation einer Desintegration des Gesamtselbst: ein Teil - eben die Körperrepräsentanz - wird geopfert, um das Ganze zu retten [8].
1 Überarbeitete Fassung des auf der 2. Klinischen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 24. bis 26. September 2004 in Münster von Hertha Richter-Appelt gehaltenen Vortrags
Literatur
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2 Freud S. Das Ich und das Es (1923). Gesammelte Werke, Bd. XIII. Imago, London 1940; 235-289
- 3 Green M, Naumann W, Elliot M, Hall J, Higgins R, Grigsby J. Sexual dysfunction following vulvectomy. Gynecol Oncol. 2000; 77 73-77
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4 Hirsch M. Vorwort. In: Hirsch M (Hrsg). Der eigene Körper als Objekt. Springer-Verlag, Berlin u. a. 1989; VII-X
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5 Hirsch M. Der eigene Körper als Objekt. In: Hirsch M (Hrsg). Der eigene Körper als Objekt. Springer-Verlag, Berlin u. a. 1989; 1-8
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6 Hirsch M. Psychogener Schmerz. In: Hirsch M (Hrsg). Der eigene Körper als Objekt. Springer-Verlag, Berlin u. a. 1989; 278-306
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7 Karg M. Subjektiver Leidensdruck, Sexualität und Partnerschaft bei Patientinnen mit Vulvaerkrankungen. Med. Diss. Universität Hamburg, Hamburg 2004
- 8 Kutter P. Emotionalität und Körperlichkeit. Prax Psychother Psychosom. 1980; 25 131-145
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9 Mertens W. Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. Bd. 1: Geburt bis 4. Lebensjahr. Kohlhammer, Stuttgart 1992
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10 Prill H. Psychosomatische Gynäkologie. Urban & Schwarzenberg, München u. a. 1964
- 11 Rechenberger I. Psychosomatische Aspekte von Vulvabeschwerden. Gynäkologe. 1993; 26 287-292
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12 Richter D. Gynäkologie. In: von Uexküll T et al. (Hrsg). Psychosomatische Medizin. 5., neubearb. und erweit. Aufl. Urban & Schwarzenberg, München 1996; 1024-1042
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13 Richter-Appelt H. Frühkindliche Körpererfahrung und Erwachsenensexualität. In: Dannecker M, Reiche R (Hrsg). Sexualität und Gesellschaft. Campus, Frankfurt/M. u. a. 2000; 383-395
- 14 Rohde-Dachser C. Ringen um Empathie: Ein Interpretationsversuch masochistischer Inszenierungen. Forum Psychoanal. 1986; 2 44-58
- 15 Schmidt S, Bauer A, Greif C, Merker A, Elsner P, Strauss B. Vulvar pain: Psychological profiles and treatment responses. J Reprod Med. 2001; 46 377-384
- 16 Vogt R. Der angsterregende Aspekt der Vulva. Sexualmed. 1985; 14 145-147
1 Überarbeitete Fassung des auf der 2. Klinischen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 24. bis 26. September 2004 in Münster von Hertha Richter-Appelt gehaltenen Vortrags
Prof. Dr. phil. H. Richter-Appelt
Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistr. 52
20246 Hamburg
Email: hrichter@uke.uni-hamburg.de