ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2005; 114(7/08): 311
DOI: 10.1055/s-2005-915212
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Alles auf Zunge

Cornelia Gins
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Publikationsdatum:
12. August 2005 (online)

Das hätte sich Einstein bestimmt nicht träumen lassen, dass sein wohl bekanntestes Körperteil einmal so in den Fokus der Zahnmedizin rücken würde. Trend ist, dass der hygienebewusste Mensch nicht nur saubere Zähne, sondern auch eine saubere Zunge hat. In vielen Ländern gehört die Zungenreinigung schon seit Jahren zum Hygienestandard. Nun haben auch bei uns Fachwelt und Industrie die Zunge gewissermaßen wieder entdeckt.

Bei der Zahnbehandlung eher störend, hingegen beim Essen, Sprechen und anderen Dingen unverzichtbar, führte die Zunge bis dato in der Zahnmedizin eher ein Schattendasein. Nicht so in der Medizin. Dass die Zunge bei inneren Erkrankungen reagiert und Veränderungen aufweist, ist uraltes Erfahrungsgut. Jeder Kinderarzt lässt sich erst einmal die Zunge zeigen. Wertvolle diagnostische Hinweise lassen sich hier erkennen. Auch der Zahnarzt sollte über Abweichungen in der Zungenmorphologie Bescheid wissen.

Unbeachtete Veränderungen können unter Umständen tief sitzende Ursachen haben. Daher messen die alternativen medizinischen Randgebiete dem Organ Zunge eine ganz besondere Bedeutung zu. Ihre Erfahrung ist, dass eine funktionelle Beziehung zwischen

auf der Haut oder Schleimhaut gelegenen Punkten und inneren, auch fern liegenden Organen besteht. Die Zunge gehört dazu. So lassen sich aus Zungengröße, -form und -verfärbungen diagnostische Hinweise ableiten. Ein grau-schwarzer Belag kann beispielsweise auf Störungen im Nieren-Blasen-System hindeuten, ein weißer Belag auf einen gastroduodenalen Befund und ein gelblicher auf das Leber-Galle-System. Arealbegrenzte Veränderungen finden sich eher bei chronischen Krankheitsbildern, bei akuten Krankheitszuständen ist meist das Gesamtbild der Zunge betroffen.

Dass die Zunge als potenzieller Bakterienträger zu bewerten ist, steht außer Frage. Dass nach einer PAR-Behandlung die Reinfektionsgefahr größer ist, wenn die Zunge nicht in die Therapie mit einbezogen wird, hat sich inzwischen bestätigt. Dass die Industrie jetzt Hilfsmittel entwickelt hat, die eine wirkungsvolle und problemlose Reinigung der Zunge ermöglichen, ist lobenswert. Doch ist die Hygiene nur die eine Seite der Medaille. Die Zunge ist meines Erachtens mehr als ein zu reinigendes Körperteil. Sie ist Ausdruck des Allgemeinzustandes des Patienten. Eine normale Zunge ist weder vergrößert noch verkleinert. Sie zeigt eine samtartige, gleichmäßige zartrosa-graue Oberfläche ohne Beläge. Ist der Befund ein anderer, ist die Diagnostik gefragt. Ob die Reinigung als Therapie da allein ausreicht?

Ich weiß, dass ich mit dieser Meinung nicht auf uneingeschränkte Zustimmung stoße. Aber es war mir wichtig, mal wieder darüber gesprochen zu haben.

Dr. med. dent. Cornelia Gins