PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(4): 351-352
DOI: 10.1055/s-2005-915304
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pan, Phobos und die kollektive Weltangst

Michael  Broda, Steffen  Fliegel
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. Dezember 2005 (online)

Die Menschen in Europa brauchen derzeit keinen Krieg zu fürchten und die allermeisten haben auch keinen Krieg erlebt. Dennoch ist nicht nur die subjektiv empfundene Bedrohungssituation groß. Vogelgrippe, Erderwärmung mit Wasseranstieg der Ozeane und andere Umweltzerstörungen, Terroranschläge und hohe Schuldenstände in den Ländern vor allem der so genannten Dritten Welt. Und obwohl die meisten Krisen hausgemacht sind und obwohl sehr viel Menschen ihre Zukunftsängste sehr konkret beschreiben können, ändert sich wenig im individuellen Verhalten.

Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer beschreibt in seinem neuen Buch[1] eine Generation, die noch nie so viel zu verlieren hatte wie heute: Sicherheit, Wohlstand, hohes Konsumniveau, universelle Kommunikation, dies sieht er auch als Mitbegründung für die zunehmende Zahl von Angsterkrankungen. Immerhin beschreibt jeder Zwanzigste nach seinen Erkenntnissen ernsthafte und das Leben einschränkende Ängste. Angst, so Schmidbauer, ist in der Regel nicht gefährlich, sie ist sogar notwendig. Gefährlich ist eine erstarrte Form, die Angst abzuwehren und sie zu verleugnen.

Ähnlich äußert sich der Psychoanalytiker und Publizist Horst-Eberhard Richter. Er sieht die Lebens- und Zukunftsängste der heutigen Bevölkerung als Ausdruck einer realitätsangemessenen Weltangst.[2] Diese entspringt in bedeutendem Maße aus Umweltzerstörung, Überbevölkerung und Sinnverlust. Sie ist also selbstproduziert aus einem unglaublichen kollektiven Egoismus heraus. Aber diese Angst vor der Welt wird auch gleichermaßen kollektiv verdrängt. Folgerichtige Forderung ist es, so Richter, die Existenz der Angst und ihrer Hintergründe eben nicht zu verdrängen, sondern sie in konstruktiven Handlungen zu bewältigen. Richter geht sogar so weit, darauf hinzuweisen, dass alles, was wir als Einzelne oder Gesellschaft tun, mit Angst zusammenhängt: Ausleben, bewusstes Vermeiden, unbewusstes Verdrängen, Projektion, Überkompensation, verarbeitende Überwindung. Wir müssen also überall mit Angst rechnen, und je hartnäckiger Angst verdrängt oder verleugnet wird, umso mehr bahne sie sich mithilfe undurchschaubarer Mechanismen schädliche Wege.

Übertragen wir diese Überlegungen von Wolfgang Schmidbauer und Horst-Eberhard Richter auf das psychotherapeutische Handeln, bedeutet es: die Angst wahrzunehmen und sich der Angst zu stellen, die Existenz von Angst auch in ihrer Sinnhaftigkeit zu erkennen, das Aufgeben von Verdrängung und Vermeidung zu unterstützen, die Hintergründe der Angst und ihre Einbindung in das soziale System zu verstehen und bei der Bewältigung der Ursachen und somit der Angst zu unterstützen. Kann eine Psychotherapieschule von sich behaupten, einem solch umfassenden Auftrag gerecht zu werden?

Die Verhaltenstherapie, unserer beider Herkunftstherapieschule, sieht sich ja prädestiniert für die Behandlung von Angststörungen. Sie hat sich tatsächlich in ihren Anfängen mit der Behandlung von Angststörungen als ernst zu nehmende Therapieform etabliert und diesen Anspruch bis heute - zum Teil mit der Entwicklung von standardisierten Behandlungsmanualen - aufrechterhalten. Obwohl die verhaltenstherapeutischen Verfahren zu gut überprüften Methoden gehören, zeigt die Alltagspraxis, dass sie mit ihren originären Theorien alleine nicht in der Lage sind, so umfassende Konstrukte wie die menschliche Angst hinreichend zu erklären. Und folgerichtig ist die Vielfalt der Angststörungen durch Verhaltenstherapie auch nicht umfassend zu behandeln. Gilt Gleiches auch für die Psychoanalyse? Diese versteht die neurotische Angst als Signal eines tiefer liegenden Konfliktes, der unbewusst nur unzureichend bearbeitet und verdrängt wurde. Wo die Verdrängung versagt, wird Angst erlebt. Die Psychoanalyse hat durch Freud schon frühzeitig ein Erklärungsmodell für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Angststörungen entwickelt und diese Entwicklung gerade durch die vielfältigen tiefenpsychologischen Ansätze weitergeführt. Aber ist das analytische und tiefenpsychologische Modell alleine und für sich ausreichend für die Erklärung der vielfältigen Angststörungen, und folgt ein ausreichendes Behandlungskonzept?

Natürlich gelten diese Fragen für alle seriösen Therapieschulen und -ansätze, die sich den behandlungsbedürftigen Angststörungen angenommen und Behandlungskonzepte aus ihrer immanenten Perspektive entwickelt haben.

Wir sind skeptisch, wollen dies aber überprüfen lassen und haben, wie es bereits Tradition unserer Zeitschrift ist, Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Therapierichtungen gebeten, das Krankheitsbild Angst und die daraus resultierenden Behandlungsansätze zu beschreiben. Gleichzeitig waren wir gespannt, ob dort, wo der eigene Ansatz unzureichend erscheint, der Dialog mit anderen Konzepten gesucht wird. Oder wird einfach übernommen und umbenannt?

Spannend ist übrigens die Sichtung der Begrifflichkeiten im Kontext mit Angst. Angst, Ängstlichkeit, Furcht, Phobie, Panik, viele Begriffe haben sich um die bestuntersuchte menschliche Emotion gerankt, deren Wurzeln bis tief in unsere Vergangenheit, unsere Evolution, unsere Genese hineinragen. Schauen wir uns einige Begriffsentwicklungen an:

Der Begriff „Panik” leitet sich vom altgriechischen Hirtengott Pan ab, der durch sein hässliches Aussehen nicht nur seine Mutter in die Flucht jagte, sondern, wenn er zürnte, andere in Schrecken versetzen konnte. Er half aber auch den Athenern, indem er durch seinen Anblick den angreifenden Persern eine panische Angst eingejagt haben soll und sie so vertrieb.

Auch Phobos, der Namensgeber der heutigen „Phobien”, Sohn des Kriegsgottes Ares und der Aphrodite war zu seiner Zeit ein Begriff für Angst und Schrecken. Sein gemaltes Antlitz auf den Rüstungen half, die Gegner einzuschüchtern.

Und nur zur Vervollständigung: „Angst” hat keine so aufregende Herkunft, der Begriff kommt schlichtweg vom Lateinischen „angustia”, was so viel wie Enge bedeutet.

Nun wünschen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen, viel Freude bei der Lektüre der neuen Ausgabe von PiD. Mit ihr schließen wir übrigens das sechste Erscheinungsjahr ab. Uns hat die Arbeit rund um PiD bisher viel Spaß gemacht, und wir haben viel voneinander über den psychotherapeutischen Dialog lernen können. Und so hoffen wir, aus dieser Freude bei der Redaktionsarbeit auch viel Anregendes und Interessantes immer wieder für Sie in der PiD zum Ausdruck bringen zu können.

Dies gilt auch für die PiD-Tagungen. Die nächste Tagung wird, vielleicht möchten Sie sich das schon notieren, vom 15. bis 17. Juni 2006 wieder in Baden-Baden veranstaltet werden.

1 Schmidbauer W (2005). Lebensgefühl Angst.

2 Richter HE (1994). Umgang mit Angst.

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