Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73 - A6
DOI: 10.1055/s-2005-918092

Geschlechtsspezifische Unterschiede von Schutz- und Risikofaktoren bei Stress – Implikationen für die Psychotherapie

U Ehlert 1
  • 1Klinische Psychologie und Psychotherapie, Psychologisches Institut Zürich

In der wissenschaftlichen Diskussion um Faktoren, die auf die Erhaltung von psychischer Gesundheit oder auf die Entstehung von psychischen Störungen Einfluss nehmen, spielt Stress eine bedeutsame Rolle. Eine Stresssituation besteht insbesondere dann, wenn sich eine Person in einer als neu, mehrdeutig, unvorhersehbar oder unkontrollierbar erlebten und persönlich bedeutsamen Situation um Orientierung bemüht. Auf der physiologischen Ebene erfolgen als Reaktion auf einen Stressor unterschiedlichste zentralnervöse, immunologische und hormonelle Anpassungsprozesse, die der Aufrechterhaltung des physiologischen Gleichgewichts dienen. Inzwischen liegen nicht nur Forschungsergebnisse zu psychobiologischen Fehlanpassungen an Stress vor, sondern es finden sich auch Studien zu den besonderen Anpassungsbedingungen von Männern und Frauen. So zeigt sich beispielsweise, dass in einer standardisierten psychosozialen Belastungssituation gesunde Männer signifikant höhere biologische Stressreaktionen aufweisen als gesunde Frauen. Dieser Effekt kann jedoch durch die pharmakologisch oder natürlich provozierte Freisetzung des Schutzhormons Oxytocin sowohl bei Männern als auch Frauen moduliert werden. Soziale Unterstützung hingegen scheint in dieser spezifischen Stresssituation nur bei männlichen Probanden hilfreich zu sein. Weiterhin zeigt sich, dass Frauen im gebärfähigen Alter biologisch günstigere Stressbewältigungsmechanismen aufweisen als Männer. Auf der psychopathologischen Ebene scheinen Frauen jedoch stressanfälliger zu sein. Schließlich finden sich während der Schwangerschaft spezifische psychobiologische Anpassungsprozesse an Stress, die u.a. prädiktiven Wert für die postpartale Anpassung der Mutter besitzen. Sowohl die biologischen als auch die psychologischen Mechanismen geschlechtsspezifischer Unterschiede der Stressbewältigung werden bewertet und bezüglich der psychotherapeutischen Konsequenzen eingeordnet.