Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-2005-919074
Neuropsychologie auf dem Prüfstand des Gemeinsamen Bundesausschusses
Clinical Neuropsychology and the German Statutory Health SystemPublication History
Publication Date:
20 January 2006 (online)

Die Wirksamkeit der neuropsychologischen Therapie ist für viele Indikationen hinreichend belegt, dennoch hat sie bislang nicht Eingang in die ambulante Versorgung gefunden. Formal unterliegt die neuropsychologische Behandlung - also die Diagnostik und Therapie durch speziell qualifizierte und durch die Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) oder die Gemeinsame Kommission Klinische Neuropsychologie (GKKN) zertifizierte Neuropsychologen - dem Psychotherapeutengesetz. Dieses Gesetz hatte jedoch leider nur psychologische Behandler psychiatrischer und psychosomatischer Erkrankungen im Blickfeld, entsprechend ist eine Praktikumsphase in einer psychiatrischen Einrichtung zu absolvieren. Vielfältige Initiativen der Gesellschaft für Neuropsychologie, des Berufsverbandes Deutscher Neurologen und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, ein Berufsbild des „Klinischen Neuropsychologen” als kompetenten Diagnostiker und Behandler und Partner von Neurologen in der ambulanten und stationären Versorgung zu etablieren, sind bislang gescheitert.
Im Rahmen der Gesundheitsreformgesetze der letzten Jahre wurde mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss ein weitgehend unabhängiges Organ gegründet, dem die Bewertung von Therapieverfahren obliegt. Es ist zu begrüßen, dass der Bundesausschuss eine Anhörung zur Wirksamkeit und zum Stellenwert der ambulanten Neuropsychologie beschlossen hat. Vorab wurden Experten aufgefordert, u. a. zu folgenden Fragen (Nummerierung des Fragenkatalogs) Stellung zu nehmen (die jeweiligen Antworten von DGN/BDN/BVDN werden zur Illustration dargestellt):
Prof. Dr. med. C.-W. Wallesch
1) Auf welche Erkrankungen bzw. Indikationen (Diagnose + Leitsymptomatik) bezieht sich Ihre Stellungnahme?
Störungen höherer Hirnleistungen (z. B. der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, visuokonstruktiver und exekutiver Funktionen, der Emotionalität und Affektivität sowie des Sozialverhaltens) nach Schlaganfall, Schädel-Hirntrauma, zerebraler Hypoxie, Infektionskrankheiten des Gehirns (z. B. Herpes-Enzephalitis), toxischen Hirnschäden, neurochirurgischen Interventionen, Bestrahlungsbehandlungen des Gehirns, bei Hirntumoren, Multipler Sklerose, neurodegenerativen Erkrankungen sowie bei Epilepsie.
4) Welche Methoden stehen zur Behandlung der o. g. Erkrankungen grundsätzlich zur Verfügung?
Störungen höherer Hirnleistungen können durch störungsspezifische neuropsychologische Therapie sowie bei bestimmten Konstellationen medikamentös behandelt werden. Dabei kann medikamentöse Behandlung die Übungsbehandlung nicht ersetzen, die Kombination ist den Einzelmaßnahmen überlegen. Die störungsspezifische Therapie setzt differenzierte, theoriegeleitete Diagnostik sowie individuelle Behandlungsplanung und im Verlauf Therapieevaluation voraus.
5) Anhand welcher diagnostischer Verfahren und ggf. welcher nachprüfbaren Parametern wird die o. g. Indikation festgestellt?
Die beschwerde- und hypothesengeleitete neuropsychologische Diagnostik beschreibt psychometrisch unter Bezug auf adäquate Normen und zufallskritisch das individuelle Defizitprofil sowie individuell vorhandene Ressourcen. Darauf aufbauend werden für Alltag oder Berufsausübung leistungskritische Defizite identifiziert, ein Therapieziel formuliert und die Therapie geplant.
7) Welche prioritären Ziele gelten für die Behandlung der o. g. Erkrankungen/Indikationen?
Verminderung von Disability und Handicap durch Restitution und/oder Kompensation von krankheitsbedingten Störungen kognitiver und affektiver Funktionen sowie von Verhaltensauffälligkeiten mittels systematischer und theoriegeleiteter neuropsychologischer Behandlung mit Zielorientierung an individuellen Impairments und Disabilities. Dabei kommen unterschiedliche Therapieformen (Restitution, Kompensation und integrierte Verfahren sowie Adaptation der Umgebung und technische Hilfsmittel) zur Anwendung, deren Indikation sich in der Regel am Zielsymptom sowie am Handicap orientiert.
9) Gibt es inhaltliche Überschneidungen des Anteils der integrativen Therapie innerhalb der Neuropsychologie gegenüber der Verhaltenstherapie bzw. der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie?
Der integrative Therapieansatz verwendet auch Techniken der Verhaltenstherapie. Diese Elemente müssen jedoch wegen der Grundvoraussetzung neuropsychologischer Therapie - des Vorliegens organisch bedingter Störungen und Anpassungen daran - immer an das spezielle Setting angepasst werden. Weit im Vordergrund stehen deshalb neben Techniken der Verhaltenstherapie symptombezogene Trainingsprozeduren (z. B. Gedächtnistraining bei Gedächtnisstörung) mit dem Ziel der Verminderung bzw. Kompensation des hirnorganisch bedingten Defizits und seiner Folgen.
10) Wie groß sind die inhaltlichen Überschneidungen zur ambulanten Richtlinien-Therapie?
Die ambulante Richtlinientherapie behandelt Patienten mit psychiatrischen und psychosomatischen Erkrankungen, sodass hinsichtlich der Klientel keine Überschneidungen bestehen sollten. Es sei jedoch angemerkt, dass neuropsychologische Behandlungsverfahren sich in der Therapie schizophrener Defektsyndrome als wirksam erwiesen haben.
13) Wie sind die Therapieschemata/definierbaren Einzelbestandteile belegt?
Beispiele für randomisierte kontrollierte Studien:Aufmerksamkeitsstörungen bei Epilepsie 1 Aufmerksamkeitsstörung nach SHT 2 3 Exekutive Funktionsstörungen nach SHT 4 5:Gestörtes Sozialverhalten nach SHT 6 Gedächtnisstörungen nach SHT 7 Neglekt nach Schlaganfall 8 9 10 Lesestörung nach Schlaganfall 11 Gedächtnisstörung nach SHT oder Schlaganfall 12 (Metaanalyse bei Cicerone u. Mitarb. 13.)
Die klinische Neuropsychologie gründet sich auf die Erkenntnisse der Hirnforschung, Systemphysiologie, kognitiven Neurologie und kognitiven Psychologie, außerdem auf Ergebnisse der Therapie- und der Lernforschung. Die jeweils individuell geplante Therapie stützt sich zunächst auf den vorliegenden theoretischen Hintergrund. Darüber hinaus werden bei Defizitkonstellationen bzw. -situationen, für die kontrollierten Studien durchgeführt wurden, die Behandlungsstrategien eingesetzt, für die ein Wirksamkeitsnachweis erbracht worden ist (z. B. oben). Wir gehen davon aus, dass der Stand der Wissenschaft es erlaubt, das theoretische Fundament der klinischen und der kognitiven Neuropsychologie in seiner Gesamtheit für valide zu halten.
16) Können Sie Belege für die Wirksamkeit der Neuropsychologie im Rahmen der zwölf Anwendungsbereiche der Psychotherapie bei Erwachsenen anführen?
Die 12 Anwendungsbereiche der Psychotherapie fokussieren auf die Psychotherapie bei psychiatrischen und psychosomatischen Erkrankungen und sind daher für die Neuropsychologie nicht anwendbar.
28) Kann Ihres Erachtens die „Ambulante Neuropsychologie” wie die Maßnahmen der physikalischen Therapie, der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie oder der Ergotherapie als Einzel-Behandlung durchgeführt werden oder handelt es sich um eine standardisierte Kombination - ähnlich der so formulierten Kombination im Bereich der Physikalischen Therapie?
Angesichts der vielgestaltigen Ausprägungen organisch bedingter Störungen höherer Hirnleistungen dürften sich standardisierte Kombinationen auf die Minderzahl behandelter Patienten erstrecken. Vor allem nach Schädel-Hirntrauma ist die neuropsychologische Behandlung häufig die einzige erforderliche Therapie 14 15.
30) Welche Qualifikationen und praktischen Erfahrungen in der Behandlung bzw. Begleitung betroffener Patienten sind vom Verordner bzw. Behandler zu fordern?
Eine theoretische und praktische Weiterbildung unter qualifizierter Supervision mit klinischer Tätigkeit in einer Einrichtung der neurologischen Krankenversorgung entsprechend dem von der Gemeinsamen Kommission Klinische Neuropsychologie (GKKN) verabschiedeten Curriculum. Ein vor Abschluss dieser Vereinbarung erworbenes Zertifikat „Klinischer Neuropsychologe (GNP)” wird als gleichwertig anerkannt.
Die Arbeit von Müller u. Mitarb. [16] kommt also zur rechten Zeit, um die aktuelle Datenlage zur neuropsychologischen Therapie exekutiver Störungen zu referieren und zu analysieren. Dieser Bereich ist für die Reintegration von Betroffenen von besonderer Bedeutung [14] [15]. Gleichzeitig ist die Evidenzbewertung hier besonders schwierig, wie die Autoren aufzeigen. Mit Blick auf die übrige Psychotherapie stellt sich die Evidenzbasierung der Neuropsychologie vergleichsweise überzeugend dar, womit der Bewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss nicht vorgegriffen werden soll.
Literatur
- 1 Engelberts N H, Klein M, Ader H J. et al . The effectiveness of cognitive rehabilitation for attention deficits in focal seizures: a randomized controlled study. Epilepsia. 2002; 43 587-595
- 2 Gray J M, Robertson I, Pentland B, Anderson S. Microcomputer-based attentional retraining after brain damage: a randomized group controlled trial. Neuropsychol Rehabil. 1991; 2 97-115
- 3 Niemann H, Ruff R M, Baser C A. Computer-assisted attention retraining in head-injured individuals: a controlled efficacy study of an outpatient program. J Consult Clin Psychol. 1990; 58 811-817
- 4 Von Cramon D Y, Matthes-von Cramon G, Mai N. Problem-solving deficits in brain-injured patients: a therapeutic approach. Neuropsychol Rehabil. 1991; 1 45-64
- 5 Levine B, Robertson I H, Clare L. et al . Rehabilitation of executive functioning: An experimental-clinical validation of Goal Management Training. J Int Neuropsychol Soc. 2000; 6 299-312
- 6 Medd J, Tate R L. Evaluation of an anger management therapy programme following acquired brain injury: a preliminary study. Neuropsychol Rehabil. 2000; 10 185-201
- 7 Berg I J, Koning-Haanstra M, Deelman B G. Long-term effects of memory rehabilitation: a controlled study. Neuropsychol Rehabil. 1991; 1 97-111
- 8 Antonucci G, Guarglia C, Judica A. et al . Effectiveness of neglect rehabilitation in a randomized group study. J Clin Exp Neuropsychol. 1995; 3 383-389
- 9 Kerkhoff G. Rehabilitation of visuospatial cognition and visual exploration in neglect: a cross-over study. Restor Neurol Neurosci. 1998; 12 27-40
- 10 Schindler I, Kerkhoff G, Karnath H O. et al . Neck muscle vibration induces lasting recovery in spatial neglect. J Neurol Neurosurg Psychiat. 2002; 73 412-419
- 11 Weinberg J, Diller L, Gordon W A. et al . Visual scanning training effect on reading-related tasks in acquired right-brain damage. Neuropsychol Rehabil. 1977; 1 97-111
- 12 Kaschel R, DellaSala S, Cantagallo A. Imagery mnemonics for the rehabilitation of memory: a randomized group controlled trial. Neuropsychol Rehabil. 2002; 12 127-153
- 13 Cicerone K D, Dahlberg C, Kalmar K. et al . Evidence-based cognitive rehabilitation: recommendations for clinical practice. Arch Phys Med Rehabil. 2000; 81 1596-1615
- 14 Ashley M J, Persel C S, Clark M C, Krych D K. Long-term follow-up of postacute brain injury rehabilitation: a statistical analysis to test for stability and predictability of outcome. Brain Injury. 1997; 11 677-690
- 15 Mazaux J M, Masson F, Levin H S. et al . Long-term neuropsychological outcome and loss of social autonomy after traumatic brain injury. Arch Phys Med Rehabil. 1997; 78 1316-1320
- 16 Müller S V, Harth S, Hildebrandt H, Münte T F. Evidenzbasierte Therapie bei exekutiver Dysfunktion. Fortschr Neurol Psychiat. 2006; 74 10-18
Prof. Dr. Claus-Werner Wallesch
Klinik und Poliklinik für Neurologie · Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Leipziger Str. 44
39120 Magdeburg ·
Email: Neuro.Wallesch@Medizin.Uni-Magdeburg.de