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DOI: 10.1055/s-2006-924185
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Begrenzung des medizinischen Standards infolge der knappen Ressourcen
Limitation of the Medical Standards Due to Slender ResourcesPublication History
Publication Date:
04 December 2006 (online)
Die Diskrepanz zwischen dem medizinisch Machbaren und dem ökonomisch Möglichen ist in den letzten beiden Jahrzehnten immer deutlicher sichtbar geworden und hat zu der Einsicht geführt, dass „die beste Medizin für alle“ [[1]] ein unerfüllbarer Wunschtraum ist. Bei der Forderung der Patienten nach optimaler Behandlung sind deshalb ebenso Abstriche zu machen wie bei der - von der Rechtsprechung immer wieder hervorgehobenen - Therapiefreiheit des Arztes, doch stellt sich damit die Frage, in welchem Ausmaß eine solche Reduzierung von Diagnose- und Therapiemaßnahmen rechtlich zulässig ist. Denn außer den Grenzen ärztlicher Erkenntnis und finanzieller Möglichkeiten gibt es rechtliche Schranken, deren Einhaltung der Rechtsgüterschutz zwingend verlangt, zumal wenn es wie bei der Krankenbehandlung gerade um die besonders wichtigen Grundrechte: Leben, Gesundheit, körperliche Integrität und Freiheit der Selbstbestimmung geht.
Deshalb ist der Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Medizin um eine dritte Dimension, das rechtliche Gebotene, zu erweitern, das seit langem in der Judikatur mit dem Begriff des fachärztlichen Standards im Sinne „guter, verantwortungsbewusster ärztlicher Übung“ umschrieben wird. Diese ist nicht vom Recht vorgegeben, sondern abhängig von der Entwicklung der medizinischen Wissenschaft und Praxis, die ihrerseits wieder von den äußeren Rahmenbedingungen unseres Gesundheitswesens geprägt wird. Dabei beschränkt sich das Recht auf eine Art „Grenzkontrolle“ [[2]], die die Mindesterfordernisse für die berufsspezifische Sorgfaltspflicht des Arztes bei der Ausübung seiner Tätigkeit festlegt und allen weiteren Rationalisierungs- und Rationierungsmaßnahmen Einhalt gebietet. Oberhalb dieser Grenze darf der medizinische Standard als Ergebnis der medizininternen Auseinandersetzung schwanken und ist deshalb, wie die Judikatur wiederholt betont hat, „je nach den personellen und sachlichen Möglichkeiten verschieden“ [[3]], sodass nicht „stets das neueste Therapiekonzept“ angewandt und die neueste apparative Ausstattung vorhanden sein muss [[4]], vielmehr Qualitätsunterschiede in der Krankenbehandlung rechtlich zulässig sind. Deshalb darf sich der Facharztstandard „nicht unbesehen an den Möglichkeiten von Universitätskliniken und Spezialkrankenhäusern orientieren“, sondern muss sich an den für den jeweiligen Patienten in der konkreten Situation „faktisch erreichbaren Gegebenheiten ausrichten, sofern auch mit ihnen ein zwar nicht optimaler, aber noch ausreichender medizinischer Standard erreicht werden kann“ [[5]].
Damit ist klargestellt: Der optimale oder gar maximale medizinische Standard wird vom Recht nicht gefordert, Anspruch auf die bestmögliche Medizin hat der Patient nicht, vielmehr sind die systemimmanenten Grenzen und Defizite im System der Krankenversorgung - und dazu gehören Finanzierbarkeit und Wirtschaftlichkeit - vom Patienten als Krankheitsrisiko hinzunehmen [[6]], ohne ein Haftungsrisiko des Arztes zu begründen. „Haftungsmaßstab ist nicht eine medizinisch mögliche, aber unbezahlbare Maximaldiagnostik und ‐therapie“ [[7]]. Die Notwendigkeit, wirtschaftliche Aspekte, also auch den Gesichtspunkt der Kosten in ärztliches Denken und ärztliche Entscheidungen durch eine Risikoabwägung einfließen zu lassen, ist deshalb in der Judikatur vielfach belegt [[8]].
Auf der anderen Seite muss der rechtlich gebotene medizinische Standard aber um des Rechtsgüterschutzes willen die Sicherheitsinteressen des Patienten wahren, sodass es eine „unverzichtbare Basisschwelle“ gibt, die weder personellen Engpässen noch ökonomischen Zwängen geopfert werden darf. Diese Untergrenze des Standards, bei deren Missachtung die zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes beginnt, ist rechtlich durch das „erlaubte Risiko“ markiert, das im Rahmen verantwortungsvoller Abwägung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewisse Restrisiken in Kauf zu nehmen gestattet, ohne sich dem Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens auszusetzen. Ist die Gefährdung des Patienten jedoch infolge der ungünstigen personellen und sachlichen Behandlungsbedingungen so groß, dass sie nicht mehr durch die „Sozialadäquanz“, d. h. den überwiegenden sozialen Nutzen verantwortet werden kann, überschreitet der Arzt das tolerierbare, erlaubte Risiko und setzt sich dem Vorwurf des Übernahmeverschuldens aus. Denn absolute Priorität vor allen anderen Aspekten haben, wie die Rechtsprechung stets betont hat, Schutz und Sicherheit des Patienten, weshalb z. B. sog. Parallelnarkosen - von Ausnahmen abgesehen - für unzulässig erachtet wurden und aus wirtschaftlichen Erwägungen eingerichtete fachübergreifende Bereitschaftsdienste im Bereich der Geburtshilfe und Anästhesie rechtlich nicht vertretbar sind.
Literatur
- 1 DÄBl 2006, A 764.
- 2 Schreiber. Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin. Göttingen; Vandenhoeck und Ruprecht 1984: 38
- 3 BGH NJW. 1993: 2989 ff
- 4 BGH NJW. 1988: 763
- 5 BGH VersR. 1994: 480-482
- 6 Steffen, Geiß F S. Die Arzthaftung im Spannungsfeld zu den Anspruchsbegrenzungen des Sozialrechts für den Kassenpatienten. Köln, Berlin, Bonn, München; Carl Heymanns Verlag KG 2000: 493
- 7 Franzki. Von der Entwicklung des Richters für die Medizin - Entwicklungen und Fehlentwicklungen der Rechtssprechung zur Arzthaftung. MedR. 1994; 12 179
- 8 BGH VersR 1975, 44. VersR 1954, 290. OLG Düsseldorf, MedR 1984, 69.
Prof. Dr. Dr. Klaus Ulsenheimer
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Email: kuhn@uls-frie.de