Suchttherapie 2006; 7(3): 95-96
DOI: 10.1055/s-2006-927008
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

EditorialR. Holzbach1
  • 1Westfälische Kliniken Warstein und Lippstadt
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Publication Date:
04 October 2006 (online)

Die Abhängigkeit von Medikamenten ist eine häufige Suchterkrankung, die aber nur selten im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Egal, ob auf Forschungs- oder Fortbildungskongressen, in wissenschaftlichen oder populären Publikationen oder aber im Versorgungsalltag des „Suchthilfe-Systems” - Medikamentenabhängigkeit taucht nur selten als Thema auf. Dem steht gegenüber, dass 2006 in der Bundesrepublik Deutschland, laut der offiziellen Zahlen der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Frau Sabine Bätzing, die Medikamentenabhängigkeit mit 1,7 Millionen Betroffenen das zweitgrößte Suchtproblem darstellt - noch vor der Alkoholabhängigkeit. Deshalb ist es besonders hervorzuheben, dass die Herausgeber der „Suchttherapie” ein Schwerpunktheft zur Medikamentenabhängigkeit auf den Weg gebracht haben.

Trotz spannender und klinisch hoch relevanter Themen werden aber auch mit dieser Ausgabe der „Suchttherapie” gleich mehrere Mängel deutlich: Es gibt zu wenig evaluierte Behandlungsprogramme für Medikamentenabhängige und zu wenig Grundlagenforschung zu dem Thema. Was eigentlich unverständlich ist. Es gibt eine hohe Zahl an Betroffenen, sie stehen in laufender ärztlicher Behandlung und für Grundlagenforscher nahezu ideal: Es gibt einen spezifischen Rezeptor, der für moderne bildgebende Verfahren bis hin zu genetischen Studien viele Ansatzpunkte ermöglichen würde. Trefflich ließe sich an dieser Stelle über den Einfluss der pharmazeutischen Industrie spekulieren, doch ich vermute, dass die Teilung zwischen Psychiatrie und Suchtmedizin eine viel entscheidendere Rolle spielt - Medikamentenabhängige „sitzen zwischen den Stühlen”. Anhand eines weiteren Mangels dieser Ausgabe wird dies schnell deutlich: Es fehlt völlig das Thema der Schmerzmittelabhängigkeit. An dieser Gruppe der Abhängigen lässt sich gut zeigen, woran es in der Behandlung Medikamentenabhängiger und überhaupt Suchtkranker mangelt: an der Verzahnung des „Suchthilfe-Systems” mit dem „normalen medizinisch-psychiatrischen Versorgungssystem”, aber auch mit der „normalen Psychotherapie”. Es gibt z. B. keinen regelhaften Austausch von Schmerzmedizinern und Suchttherapeuten über das Problem der Langzeiteinnahme der Schmerzmittel, das Problem der Suchtentwicklung bei fehlendem Erfolg der Behandlung, die psychische Wirkkomponente von Opiaten bei der Verarbeitung einer akuten oder chronischen Erkrankung. So tauchte auch auf einem der größten Psychotherapiekongresse im deutschsprachigen Raum, den „Lindauer Psychotherapietagen”, in dem diesjährigen zweiwöchigen Programm nicht ein einziges Mal das Thema „Sucht” auf. Die Suchtmedizin und Suchttherapie muss nun, nachdem sie sich zu einer eigenständigen Disziplin in Medizin und Psychotherapie entwickelt hat, auch wieder offen für den Austausch mit den Nachbardisziplinen zeigen. Dort werden derzeit wesentlich mehr Medikamentenabhängige gesehen und behandelt als im Suchthilfesystem, allerdings selten spezifisch und leider nicht immer konsequent im Sinne des Krankheitsverständnisses der Suchtmediziner. Dies gilt aber mindestens genauso für die Gruppe der Alkoholkranken.

Es fehlt auch eine breite Diskussion über das Problem der Langzeiteinnahme von Benzodiazepinen. Alle einschlägigen Empfehlungen von Fachgesellschaften empfehlen eine zeitliche Begrenzung der Benzodiazepin-Gabe, aber eine Ächtung jeglicher Langzeitverordnung wird vermieden, da im Einzelfall es durchaus sinnvoll sein könnte. Jeder, der Wirkumkehr, relative Entzugssymptome und die positiven Veränderungen nach dem Ausschleichen von Benzodiazepinen bei Betroffenen erlebt hat, fragt sich, wie kann so ein Einzelfall aussehen? Die gemeinsame Arbeit von Frau Follmann (Ärztekammer Westfalen-Lippe) und Herrn Wüstenbecker (Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe) in dieser Ausgabe der „Suchttherapie” zeigt das Dilemma deutlich. Der politische Wille ist da, dass Problem der Medikamentenabhängigkeit zu bekämpfen, Vorgehensweisen sind erarbeitet und die personellen Voraussetzungen für die Umsetzung geschaffen - allein „es darf niemandem weh tun”. Der Weg zu „informieren und zu sensibilisieren”, den Kassenärztliche Vereinigung und Ärztekammer in Westfalen-Lippe verfolgen, stellt zweifelsfrei den zentralen Baustein für eine veränderte Verschreibungsweise dar. Doch diese Strategie hat ihre Grenzen: Immer mehr Kolleginnen und Kollegen weichen auf Privatrezepte aus, entziehen sich so einer Kontrolle und die Patienten bekommen sogar die Empfehlung mit auf den Weg, die Rezepte nicht alle bei einer Apotheke einzulösen. Diese Kolleginnen und Kollegen wissen offensichtlich um das Problem der Sucht(gefahr) und verhalten sich wie Dealer (heimliche Weitergabe von Suchtmitteln) und bereichern sich zum Teil noch durch Gebühren auf die Privatrezepte an der Abhängigkeit.

Aber nicht nur Ärzte können beim Thema der Abhängigkeit von Medikamenten eine unrühmliche Rolle spielen: Apotheken geben kommentarlos an offensichtlich Abhängige Benzodiazepine heraus, manche sogar auch ohne Rezept oder aufgrund offensichtlich gefälschter Privatrezepte. Ernst Pallenbach zeigt eine ganz andere Rolle, die Apotheker bei Medikamentenabhängigen wahrnehmen können - als Fachberater, die Medikamentenabhängige über die Abhängigkeit aufklären und den Entzug begleiten! Ein bisher bundesweit einmaliges Projekt, dass aufgrund hohem persönlichen Einsatz gerade älteren Menschen, die sich nicht in eine Suchtambulanz oder auf eine Suchtstation begeben hätten, ein suchtmittelfreies Leben ohne Schlafstörungen und ohne Sturzgefahr durch dämpfende und muskelentspannende Benzodiazepine ermöglicht. Nachahmung dringend empfohlen!

Vielleicht haben die Allgemeinmediziner, die sich der Behandlung Suchtkranker verschrieben haben, eine Schlüsselrolle beim (wieder)verknüpfen von Suchtmedizin und dem „restlichen Gesundheitswesen”. Insoweit ist es gut, in dieser Ausgabe der „Suchttherapie” vom Kollegen Piest einen Beitrag zu haben, der zeigt, wie auch im hausärztlichen Rahmen innovative suchtmedizinische Behandlungen entwickelt und in den Alltag implementiert werden können. Auch hier wird wieder deutlich, dass es zunächst einen hohen persönlichen Einsatz bedarf und der Mehraufwand nicht durch die GKV finanziert wird, obwohl der ambulante Beikonsumentzug auch bei einer adäquaten Bezahlung noch kostengünstiger wäre als die bisher übliche stationäre Behandlung. Die Arbeit von Herrn Piest macht auch deutlich, dass mittlerweile ambulante Behandlungsschritte möglich sind, die bislang dem stationären Sektor vorbehalten waren. Dieser Trend wird sich fortsetzen.

Die eigene Arbeit zum Benzodiazepin-Entzug soll vor allem Verständnis für die Besonderheiten der Medikamentenabhängigen wecken und die konkrete Vorgehensweise beim Benzodiazepin-Entzug vermitteln.

Vielleicht werden sich manche Leser dieser Ausgabe der „Suchttherapie” fragen, ob es nicht besser wäre, Benzodiazepine ganz zu verbieten. Aus meiner Sicht (als Psychiater) wäre dies ein falscher Schritt, denn Benzodiazepine haben wesentlich zur Humanisierung der Psychiatrie beigetragen. Welche Maßnahmen wären aber dann sinnvoll und wünschenswert? Für die Zukunft bedarf es mehr Initiativen wie die von Kassenärztlicher Vereinigung und Ärztekammer Westfalen-Lippe zusammen mit DHS und BKK-Bundesverband zur Aufklärung und Schulung von Ärzten, damit jeder Arzt weiß, die Langzeitverschreibung von Benzodiazepinen schadet mehr, als dass sie nutzt. Medikamentenabhängige kommen viel zu selten in suchtmedizinische Behandlung. Als Suchtmediziner wünsche ich mir deshalb mehr Zentren, die eigenständige Behandlungskonzepte für Medikamentenabhängige anbieten, damit die Schwelle zur Behandlung sinkt. Medikamentenabhängige sind häufig ältere Menschen, die eine eher passive Grundhaltung haben. Ihre Sucht fällt nicht auf. Eine Initiative von Betroffenen als Sprachrohr der Medikamentenabhängigen und als Schritt zu mehr Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit könnte diesem Phänomen entgegen wirken.

Aber wie kann es gelingen, dass Suchtmedizin und Suchttherapie enger mit somatischer Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie verbunden wird? Es ist ein seltsames Phänomen, aber immer wieder zu beobachten: Wer einmal in der Sucht gearbeitet hat, kommt kaum wieder davon weg. Andererseits bestehen z. B. bei sehr vielen Weiterbildungsassistenten in der Psychiatrie große Vorbehalte gegenüber einem Einsatz auf einer Suchtstation, Suchtpatienten werden von „normalen” Psychotherapeuten abgelehnt (oder die Sucht nicht erkannt). Wie passt das zusammen? Wer dieses Rätsel im Alltag löst, wird viel für unsere Suchtpatienten erreichen, besonders für die Subgruppe der Medikamentenabhängigen!

Dr. R. Holzbach

Westfälische Kliniken Warstein und Lippstadt

Franz-Hegemann-Str. 23

59581 Warstein

Email: ruediger.holzbach@wkp-lwl.org