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DOI: 10.1055/s-2006-931520
Balint in Stockholm - Erlebnisse und Eindrücke vom 14. Internationalen Balint Kongress
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
22. März 2006 (online)

Vom 24. bis 27. August 2005 hatte die Schwedische Balint-Gesellschaft alle an Balint-Arbeit Interessierten zu dem 14. Internationalen Balint-Kongress nach Stockholm eingeladen. Mein folgender, kurzer Bericht von diesem Kongress wird sich in seiner Gestalt an dem orientieren, was uns die Balint-Methode lehrt, nämlich neben den fachlich-wissenschaftlichen Dingen auch das „andere der Vernunft” zu beachten, Assoziationen und Fantasien zuzulassen und Beziehungen wahrzunehmen.
Eine Kongressreise als persönliches Erlebnis eines Teilnehmers beginnt vor der offiziellen Eröffnung. Für mich begann der Balint-Kongress spätestens am Morgen des 23. August, als mein Flugzeug in Zürich Richtung Schweden in den Himmel stieg: Über den Wolken schien die Sonne und damit konnte ich mehrtägigen Regen, graues Wetter und Hochwasser in der Schweiz unter mir lassen, so, wie den Alltag und die Arbeit.
Eine großzügige Reiseplanung erlaubte es mir, einen sonnigen Tag vor dem offiziellen Kongressbeginn in Stockholm zu verbringen und die Stadt etwas kennen zu lernen, durch die Straßen zu gehen, die Häuser, Kirchen und Menschen zu sehen, in den Himmel zu blicken, die schwedische Sprache zu hören, kurzum, mich einzustimmen, bevor dann am Mittwoch, dem 24. August, abends die Reception Party im Rathaus begann. Die Begrüßung durch einzelne bekannte Gesichter war freundlich und verband sich bald mit dem Hinweis, dass es bei einem Balint-Kongress zugehe wie bei einem Familientreffen. Erstmal fand ich als Anhaltspunkt dafür nur den Umstand, dass auf den Namensschildern die Vornamen fett und die Familiennamen klein gedruckt waren, was zu einer vertrauten Anrede ermutigte. Dennoch waren mir die meisten der vielen Balintonkels und -tanten, -vettern und -cousinen noch fremd. Ein Gefühl von ideeller Zugehörigkeit schuf dann aber für mich eindeutig die Eröffnungsrede von Heide Otten mit einer Standortbestimmung der Balint-Arbeit in der Medizin: Balint-Arbeit gehört in einer polar verstandenen Medizinlandschaft auf die Seite des Poles „charity and psychology” und steht damit dem Streben nach reinem „technical advance” gegenüber. Das war eine echte, auch identitätsstiftende Begrüßung, die wir alle gerne angenommen haben.
Bei der anschließenden Führung durch das Stockholmer Rathaus wurden wir dann an eine für die praktische Balint-Arbeit durchaus wichtige Erkenntnis erinnert: Fantasien und Illusionen sind wahr und gültig. Nachdem uns die komplett aus rotem Backstein gemauerte zentrale Halle als „Blue” Hall vorgestellt worden war, suchte ich vergeblich nach etwas blauem, bis erklärt wurde, dass der Name von dem blauen Himmel über Stockholm herrührt, den man über sich hätte sehen sollen, wenn - im Sinne des ursprünglichen Planes des Architekten - die Halle als freier Innenhof gestaltet worden wäre und nicht überdacht, wie es heute der Fall ist. Und in dem Moment war die Halle blau.
Am Donnerstag begrüßte dann Henry Jablonski als Leiter der schwedischen Gruppe mehr als 120 Kongressteilnehmer aus 16 Ländern und 3 Kontinenten zu dem offiziellen Beginn des Tagungsprogramms. Er machte uns mit dem - wie er meinte - für die schwedische Mentalität typischen Wort „lagom” vertraut, das er zugleich auch als Motto für den Kongress ausgab: Es bedeutet „gerade recht”, nicht zu heiss, nicht zu kalt, nicht zu viel, nicht zu wenig.
Danach begannen die Vorträge, von denen ich hier nur einzelne erwähnen werde, die in einem weißen Rauschen meiner Erinnerung an den Kongress irgendwie hängen geblieben sind. Meine Auswahl rechtfertigt sich also durch ihre Subjektivität.
Viel Applaus und Zustimmung erhielt André Matalon mit seinen Ausführungen über „communication, relationships and Balint groups”. Er hat in seinem Vortrag herausgestellt, was uns allen wichtig ist, indem er die Aspekte der Arzt-Patienten-Beziehung und ihren Wert benannt hat. Sein Hinweis auf Balints prägnante Begriffsschöpfung der „mutual investment company” für die Arzt-Patient-Beziehung verlieh dem zwar an sich schon zeitlos brisanten Thema noch etwas aktuelles in einer Gegenwart, in der die Börsennachrichten und Aktienkurse täglich vor der Tagesschau gezeigt werden.
Einen festen Platz hatte in dem Programm auch die praktische Balint-Arbeit, die unter den Kongressbedingungen natürlich speziell war: Die von den Organisatoren zusammengestellten Gruppen waren buntgemischt mit Teilnehmern aus unterschiedlichen Ländern und mit unterschiedlicher Muttersprache, aber auch mit individuell sehr unterschiedlicher Balint-Erfahrung, die von der jeweils spezifischen nationalen Balint-Kultur geprägt war. In meiner Gruppe trafen sich neben Deutschen und Schweizern auch Schweden, Polen, Israelis und Dänen. Und wir wussten von Anfang an: Nach 4 Tagen trennen wir uns wieder. Dennoch wurde intensiv gearbeitet, die Gruppe fand schnell zusammen und es konnte viel zugelassen werden. Dass wir in meiner Gruppe auch eine Skulptur stellten, hat mir wieder viel Spass gemacht und ich habe es mittlerweile in meiner Berner Gruppe selbst ausprobiert.
Durch unsere Gruppenarbeit erhielt auch der Kongress eine neue Qualität: Die Begegnungen in der Gruppe wirkten in die Kontakte während des wissenschaftlichen Programms und der Pausen hinein, die zwischenmenschliche Atmosphäre wurde intensiver, persönlicher, näher, vertrauter. Und irgendwann hatte sich für mich die Ankündigung vom Eröffnungsabend erfüllt: Bei einem Balint-Kongress geht es tatsächlich eher wie bei einem Familientreffen zu als bei einem konventionellen wissenschaftlichen Kongress.
Aber auch in einer Familie gibt es Dissonanzen und nicht nur Harmonie. Der Gedanke daran, dass ein Ethnologe, ein Verhaltensforscher, die Prozesse in einer Balint-Gruppe aus der Sicht seines Faches betrachtet und mit seinen Methoden erschließt, wurde auch mit kritischen und skeptischen Stimmen diskutiert. Ich fand den Beitrag von John Salinsky und Ruth Pinder spannend und wäre neugierig, ob uns die Vertreter dieser Disziplin möglicherweise auf manchen blinden Fleck aufmerksam machen. Vielleicht eröffnet sich hier ja auch ein Forschungsfeld, das jenseits der einheitswissenschaftlichen Ansätze von RCTs etc. Balint-Arbeit mit geeigneteren Methoden und Fragestellungen wissenschaftlich zu erfassen erlaubt.
Am Freitagabend wurde dann in dem Erlebnispark Junibacken „bei Astrid Lindgren” gefeiert. Nach einer tour d’horizon im Besucherzug durch die von dieser Schriftstellerin geschaffenen, dort liebevoll nachgebauten schwedischen Märchenwelten, die seit Jahrzehnten die kindlichen (und erwachsenen) Fantasien anregen, ging es dann gesellig und fröhlich zu. Die Gesangsdarbietung der deutschen Gruppe mit ihrer auf die „Balintianer” umgedichteten Fassung des Vormärz-evergreens „Die Gedanken sind frei” war nicht nur musikalisch gelungen, sondern auch inhaltlich passend.
In den nächsten Tagen gab es für mich weitere anregende Vorträge: Benyamin Mayoz fasste wichtige Funktionen einer Balint-Gruppe zusammen und beschrieb sie als „narrative containers”. Damit machte er klar, dass die Balint-Arbeit auch eine Speerspitze derjenigen Bewegung in der Medizin ist, die sich nicht mehr ausschließlich an Evidenz auszurichten bereit ist.
Dass sich für die Balint-Arbeit ein reiches Material erschließt, wenn wir auf Namen achten, das zeigte Stanley Rabin überzeugend in seinem Vortrag. Seien es die Namen der Teilnehmer, der Patienten oder anderer Personen aus der Geschichte, sie tragen alle eine Bedeutung. Ich wurde dadurch an eine Intervision unserer Schweizerischen Balint-Gesellschaft im letzten Jahr in Zürich erinnert, als der Gruppenleiter mehrfach „versehentlich” die Referentin mit dem Namen der Patientin ansprach. Mit dieser Fehlleistung benannte der Leiter die Identifikation der Therapeutin mit ihrer Patientin und gab damit den Schlüssel für das Verstehen des Falls.
Viele andere Beiträge des Kongresses zeigten, dass die Entwicklungstendenzen in der Balint-Arbeit lebendig, vielfältig und offen sind. Sie lassen aber auch die Frage offen, wie und ob sich Balint-Arbeit zu zukünftigen Entwicklungen in der Medizin verhalten kann: Avantgarde einer neuen, sich stärker psychosozial orientierenden Medizin oder Aussenseiter in einer fortgesetzt biotechnisch ausgerichteten Medizin?
Am Samstagabend folgte dann als Abschluss die Versammlung der International Balint Federation unter der Leitung von Heather Suckling. Hier wurden wir nach den Tagen wieder von den Themen eingeholt, die unsere Welt und Zeit vermeintlich bestimmen: Geld, Verhältnis 1. und 2. Welt, Organisation, Struktur, Politik. Am Ende stand der Blick in die Zukunft: Der nächste Internationale Balint-Kongress findet 2007 in Lissabon statt.
Die Teilnahme an diesem 14. Internationalen Balint-Kongress mit den vielfältigen Anregungen, Eindrücken und Begegnungen war für mich ein besonderes Erlebnis, das sich natürlich auch mit dem Besuch in Stockholm verbindet. Für eine Reise nach Schweden ziehe ich immer gerne den nach wie vor besten Reiseführer für dieses Land aus dem Bücherregal: Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen von Selma Lagerlöf. Hier wird in dem Kapitel über Stockholm die Episode erzählt, dass der schwedische König inkognito seinen Untertanen Klement trifft, der in Stockholm lebt und Heimweh nach seiner nordschwedischen Heimat hat. Der König tröstet ihn und sagt von seiner Hauptstadt: „Von hier erhalten alle Schweden irgend etwas, und hier haben auch alle Schweden irgend etwas zu tun. Hier braucht sich niemand fremd zu fühlen oder Heimweh zu haben. Hier sind alle Schweden daheim.”
In diesem Sinne ist für mich eines sicher: Vom 24. bis 27. August 2005 waren alle Teilnehmer des Balint-Kongresses „Schweden”.
Philipp Portwich, Bern (CH)
Der Autor ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, derzeit bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt tätig. Er ist ordentliches Mitglied der Schweizerischen Balint-Gesellschaft und Balint-Gruppenleiter der Deutschen Balint-Gesellschaft
Literatur
- 1 Proceedings of the 14th International Balint Congress Stockholm 2005 „Balint in a time of change and crisis in the health care system”. Stockholm; 2005
- 2 Lagerlöf S. Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. München; 1948
Dr. med. Philipp Portwich
Schosshaldenstraße 40
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eMail: philippportwich@aol.com