Fortschr Neurol Psychiatr 2006; 74(5): 249-250
DOI: 10.1055/s-2006-932130
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Depression nach Schlaganfall - Wege zur Diagnose

Depression After Stroke - Diagnostic Screening and AlgorithmC.  W.  Wallesch
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Publication Date:
21 April 2006 (online)

Gleich zwei Artikel des vorliegenden Heftes [1] [2] behandeln die Diagnostik der Post-Stroke-Depression (PSD). Da diese Störung häufig ist und die Rehabilitation sowie die Lebensqualität von Betroffenen und Angehörigen erheblich zu beeinträchtigen vermag, sollte den behandelnden Ärzten (in der Akutphase Neurologen und Internisten, im weiteren oft Hausärzte) und auch Fachtherapeuten ein einfaches Screening-Instrument sowie ein Algorithmus zur weiterführenden Diagnostik zur Verfügung stehen. Die PSD ist zumindest bei einem Teil der Betroffenen einer medikamentösen Therapie zugänglich [3] [4].

Prof. Dr. med. C.-W. Wallesch

Nolte u. Mitarb. [1] können bei 193 (91 % Rücklauf) 4 Jahre nach Schlaganfall mit Fragebogen untersuchten Patienten zeigen, dass die Bejahung zweier Fragen („Haben Sie sich im letzten Monat häufiger bedrückt oder depressiv gefühlt oder an Hoffnungslosigkeit gelitten?”, „Haben Sie im letzten Monat weniger Lust oder Interesse an Ihren übrigen Aktivitäten (z. B. Hobbys, Lesen, Spazieren gehen etc.) gehabt”) 25 von 28 Personen mit Punktzahl von 18 und mehr im Beck-Depressions-Inventar (BDI) identifizierten. Kein Betroffener, der beide Fragen verneinte, erreichte einen Wert dieser Höhe im BDI.

Dohmen u. Mitarb. [2] schlagen vor, allen Schlaganfallpatienten innerhalb der ersten zwei Wochen nach Ereignis z. B. auf der Visite die Frage zu stellen: „Fühlen Sie sich häufig traurig und niedergeschlagen?”. Bei Bejahung sollten sich weitere diagnostische Schritte anschließen (Hospital Anxiety and Depression Scale oder Geriatric Depression Scale), bei Verneinung die Frage wöchentlich wiederholt werden. Bei Auffälligkeit in den genannten Instrumenten soll die Indikation zur psychiatrischen Untersuchung gestellt werden. Die Autoren weisen zu Recht auf die Problematik hin, die PSD im ICD-10 zu klassifizieren, während DSM-IV sie abzubilden vermag.

Unterschiedliche Diagnosekriterien und verwendete Instrumente sowie Stichprobeneigenschaften erklären weitgehend die Unterschiede in den berichteten Prävalenzraten der PSD [5]. Bei Verwendung der Kriterien des DSM-III werden einen Monat nach Insult Prävalenzen von 11 - 47 %, nach 3 Monaten von 28 - 53 %, nach 12 Monaten von 11 - 42 % und nach 3 - 4 Jahren von 18 - 29 % angegeben [5].

Ob es einen Läsionsbezug einer depressiven Symptomatik nach Schlaganfall gibt, ist umstritten [6]. Manche Autoren nehmen eine Lokalisationsabhängigkeit nur für eine depressive Symptomatik in den ersten Wochen nach Insult an [7] [8]. Es erscheint daher notwendig, bei allen Schlaganfallpatienten, in der akuten wie in der chronischen Phase, an eine depressive Komorbidität zu denken. Dazu geben die beiden Beiträge in diesem Heft wichtige Anstöße.

Im Folgenden sollen einige wichtige Befunde der Literatur der letzten Jahre zur PSD referiert werden:

Kauhanen u. Mitarb. [9] untersuchten 106 konsekutive Patienten mit ischämischem Infarkt im vorderen Stromgebiet einer Einjahres-Katamnese. 70 % der Aphasiker (1/4 der Patienten) erfüllten nach 3 Monaten und 62 % nach 12 Monaten DSM-III-R-Kriterien einer Major- oder Minor-Depression (nichtaphasische Patienten 46 zu 36 %). Während bei Aphasikern die Prävalenz einer Major-Depression von 11 % nach 3 Monaten auf 33 % nach 12 Monaten anstieg, erfüllten nur 8 bzw. 11 % der nichtaphasischen Patienten die Kriterien. Die besondere Häufigkeit schwerer Depressionen bei Aphasikern ist vielfach belegt, die Frage ob es einen Zusammenhang mit der Läsionslokalisation gibt oder ob es sich um ein Epiphänomen der Kommunikationsstörung handelt, bleibt jedoch offen [6].

Aben u. Mitarb. [10] fanden in zwei großen prospektiv untersuchten Kollektiven von Patienten nach akutem Myokardinfarkt (n = 200) und Schlaganfall (n = 190; Patienten mit schwerer Aphasie ausgeschlossen) innerhalb des ersten Jahres nach Erkrankung eine kumulative Inzidenz depressiver Störungen nach DSM-IV von 38,7 % nach Schlaganfall und 28,4 % nach Herzinfarkt. Der Unterschied verschwand jedoch nach Korrektur für Alter, Geschlecht und Ausmaß der Behinderung. Die Ergebnisse legen nahe, auch bei anderen bedrohlichen oder behindernden somatischen Erkrankungen nach depressiver Komorbidität zu fahnden.

Im Rahmen der FINNSTROKE-Studie wurden Inzidenz und Schwere einer depressiven Symptomatik bei Schlaganfall-Betroffenen und ihren betreuenden Angehörigen 3 und 12 Monate nach Ereignis mit dem BDI (Cutoff 10) in Regionen mit und ohne Nachsorgeprogramm untersucht [11]. Nach 3 Monaten wiesen 41 % der Patienten in Interventionsgebieten, jedoch 54 % in Kontrollgebieten eine depressive Symptomatik auf, nach 12 Monaten 42 bzw. 55 %. Bei Angehörigen waren depressive Symptome nach 3 Monaten in Gebieten mit und ohne Intervention gleich häufig (42/ 41 %), nach 12 Monaten waren depressive Angehörige in Interventionsgebieten signifikant seltener. Dennis u. Mitarb. [12] bestätigen die Inzidenz (33 %) einer depressiven Symptomatik bei betreuenden Angehörigen und weisen auf ihre emotionale Belastetheit hin (55 % nach General Health Questionnaire).

Sowohl nach 3 Monaten als auch nach einem Jahr korreliert die PSD mit funktioneller Abhängigkeit [13]. Das Vorliegen einer PSD ist ein unabhängiger negativer Prädiktor für das Rehabilitationsergebnis [14]. Patienten, deren Depression innerhalb der ersten Monate zurückging, weisen gegenüber anhaltend Depressiven ein größere Verbesserung ihrer Alltagsfunktionen auf [15].

Sowohl psychotherapeutische als auch medikamentöse Interventionen sind zumindest bei einem Teil der von PSD Betroffenen wirksam [4]. Auch wenn die Pathogenese der Depression nach Schlaganfall noch nicht abschließend geklärt ist, handelt es sich um eine häufige, Betroffene und Angehörige beeinträchtigende Komorbidität, die oft einer Behandlung zugänglich ist. Auch über den Kontakt mit Schlaganfallpatienten hinaus sollten Ärzte die Frage nach Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Bedrücktheit stellen und ihrer Bejahung diagnostisch und therapeutisch nachgehen.

Literatur

  • 1 Nolte C H, Müller-Nordhorn J, Jungehülsing G J. et al . Zwei einfache Fragen zur Diagnose der Post-Schlaganfall Depression.  Fortschr Neurol Psychiat. 2006;  74 251-256
  • 2 Dohmen C, Garlip G, Sitzer M. et al . Post-Stroke-Depression. Algorithmus für ein standardisiertes diagnostisches Vorgehen in der klinischen Routine.  Fortschr Neurol Psychiat. 2006;  74 257-262
  • 3 Huff W, Ruhrmann S, Sitzer M. Diagnostik und Therapie der Depression nach Schlaganfall.  Fortschr Neurol Psychiat. 2001;  69 581-591
  • 4 Anderson C S, Hackett M L, House A O. Interventions for preventing depression after stroke. The Cochrane Library Issue 2. Chichester: Wiley 2004
  • 5 Huff W, Steckel R, Sitzer M. „Poststroke Depression”. Epidemiologie, Risikofaktoren und Auswirkungen auf den Verlauf des Schlaganfalls.  Nervenarzt. 2003;  74 104-114
  • 6 Carson A J, MacHale S, Allen K. et al . Depression after stroke and lesion location: a systematic review.  Lancet. 2000;  356 122-126
  • 7 Herrmann M, Bartels C, Schumacher M, Wallesch C W. Poststroke Depression. Is there a pathoanatomic correlate for depression in the postacute stage of stroke?.  Stroke. 1995;  26 850-856
  • 8 Shimoda K, Robinson R G. The relationship between poststroke depression and lesion location in long-term follow-up.  Biol Psychiatry. 1999;  45 187-192
  • 9 Kauhanen M L, Korpelainen J T, Hiltunen P. et al . Aphasia, depression, and non-verbal cognitive ompairment in ischaemic stroke.  Cerebrovasc Dis. 2000;  10 455-461
  • 10 Aben I, Verhey F, Strik J. et al . A comparative study into the one year cumulative incidence of depression after stroke and myocardial infarction.  J Neurol Neurosurg Psychiat. 2003;  74 581-585
  • 11 Kotila M, Numminen H, Waltimo O, Kaste M. Depression after stroke: results of the FINNSTROKE study.  Stroke. 1998;  29 368-372
  • 12 Dennis M, O'Rourke S, Lewis S. et al . A quantitative study of the emotional outcome of people caring for stroke survivors.  Stroke. 1998;  29 1867-1872
  • 13 Singh A, Black S E, Herrmann N. et al . Functional and neuroanatomic correlations in poststroke depression: The Sunnybroke study.  Stroke. 2000;  31 637-644
  • 14 Pohjasvaara T, Vataja R, Leppavuori A. et al . Depression is an independent predictor of poor long-term functional outcome post-stroke.  Eur J Neurol. 2001;  8 315-319
  • 15 Chemerinski E, Robinson R G, Kosier J T. Improved recovery in activities of daily living associated with remission of post-stroke depression.  Stroke. 2001;  32 113-117

Prof. Dr. med. Claus-Werner Wallesch

Klinik und Poliklinik für Neurologie · Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

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Email: neuro.wallesch@medizin.uni-magdeburg.de