Fortschr Neurol Psychiatr 2006; 74(4): 191-193
DOI: 10.1055/s-2006-932135
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Willensfreiheit als wissenschaftliches und philosophisches Problem

Free Will: Scientific and Philosophical IssuesM.  Pauen1
  • 1Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Institut für Philosophie
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Publication Date:
12 April 2006 (online)

Prof. Dr. Michael Pauen

Es gehört zu den erfreulichen Entwicklungen der Wissenschaftslandschaft in den letzten Jahren, dass sich unter Philosophen und Hirnforschern ein wachsendes Bewusstsein für die Relevanz der Arbeit der jeweils anderen Disziplin herausgebildet hat - auch wenn es immer noch Missverständnisse und Unkenntnis im Detail gibt. Die Debatte über die Willensfreiheit bildet ein gutes Beispiel für diese Entwicklung. Nachdem ursprünglich beide Seiten, Neurowissenschaftler wie Philosophen, der Ansicht waren, das Problem am besten in Eigenregie lösen zu können, hat sich mittlerweile weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass wirklicher Fortschritt nur durch eine intensive Zusammenarbeit zu erreichen ist.

Bei aller interdisziplinären Euphorie sollte man allerdings nicht vergessen, dass eine wirklich fruchtbare Kooperation ein klares Bewusstsein auch der Grenzen voraussetzt, die den Disziplinen und ihren Methoden gezogen sind. Philosophen, die im Lehnstuhl empirische Fragen lösen, verstoßen ebenso gegen diese Einsicht wie Hirnforscher, die meinen, begriffliche oder normative Fragen experimentell lösen zu können. Tatsächlich ist der Unterschied zwischen der philosophischen Frage nach den Kriterien oder Normen, die eine freie Handlung erfüllen sollte, und der empirischen Frage, ob bzw. unter welchen Bedingungen Menschen diese Kriterien faktisch erfüllen, evident - dennoch ist er oft genug missachtet worden.

Es ist daher zu begrüßen, wenn Brücher und Gonther [1] in ihrer Untersuchung über das Verhältnis von Willensfreiheit und Neurobiologie ausdrücklich darauf hinweisen, dass Willensfreiheit kein bloßer Sachverhalt ist, den man problemlos operationalisieren und experimentell untersuchen kann. Freiheit ist vielmehr ein normativer Begriff; eine Diskussion über Freiheit muss also auch eine Verständigung darüber erreichen, welche Kriterien eine Handlung erfüllen muss, damit man sie berechtigterweise als frei bezeichnen kann.

Nicht weniger wichtig als die Frage nach den Kriterien von Freiheit ist die Untersuchung, ob menschliche Handlungen faktisch frei sind - dies ist offensichtlich eine empirische Frage. Die wohl bekannteste Studie zum Thema ist die bereits in den 1980er-Jahren publizierte Untersuchung von Benjamin Libet [2] [3], die häufig als Beleg dafür interpretiert wird, dass bewusste Willensakte bloße Begleiterscheinungen subpersonaler neuronaler Prozesse sind und keine Bedeutung für die eigentliche Handlungssteuerung haben [4]. Brücher und Gonther [1] zeigen, dass diese viel zitierten Untersuchungen Schwachstellen nicht nur auf der experimentellen, sondern auch auf der begrifflichen Ebene haben. Auf ein zentrales Problem hatten bereits Keller und Heckhausen [5] aufmerksam gemacht. Sie zeigen experimentell, dass Libet nicht den eigentlichen Willensakt, sondern nur den Impuls zu einer normalerweise unwillkürlich vollführten Bewegung untersucht hat. Der eigentliche Willensakt findet bei Libet bereits vor der eigentlichen Untersuchung statt, nämlich dann wenn die Versuchsperson sich für oder gegen die Teilnahme am Experiment entschließt. Da Libets Untersuchung außerdem nicht ausschließen kann, dass nach dem Auftreten des Bereitschaftspotenzials auch noch andere Bewegungen möglich sind, bleibt unklar, was das Bereitschaftspotenzial festlegt. Die Untersuchungen von Haggard und Eimer [6] sowie eigene Untersuchungen [7] deuten darauf hin, dass das symmetrische Bereitschaftspotenzial die Bewegung nicht festlegt.

Ein weiterer neuralgischer Punkt bei Libet ist die Datierung des bewussten Willensaktes. Kritisch für Libets eigene Interpretation ist, dass das Bereitschaftspotenzial dem bewussten Willensakt vorausgeht; bei Libet selbst beträgt die Differenz 350 ms. Vergleicht man die entsprechenden Daten der seither publizierten Nachfolgeexperimente [5] [6] [8], dann stellt sich die Frage, ob die Messungen wirklich so genau sind, wie dies für Libets Interpretation erforderlich wäre. Die Werte für den bewussten Willensakt schwanken nämlich zwischen 984 ms vor der Handbewegung [6] und 806 ms danach [5]. Offenbar sind die Versuchspersonen also nicht zu der eigentlich erforderlichen genauen Datierung in der Lage. Grundsätzliche Schlussfolgerungen etwa auf die vermeintliche Bedeutungslosigkeit bewusster Willensakte dürften sich daher verbieten, zumal die Willensakte in einigen Fällen dem Bereitschaftspotenzial voraus gingen. Trevena und Miller [8] weisen zudem auf das „Smearing Artifact” hin, eine systematische Verzerrung bei der Mittelwertbildung des Bereitschaftspotenzials. Sie führt dazu, dass der Einsatzpunkt des Bereitschaftspotenzials im Verhältnis zur Datierung des Willensaktes vorverlegt wird. Die Behauptung, das Bereitschaftspotenzial steuere den Willensakt und nicht der Willensakt das Bereitschaftspotenzial, erscheint daher nochmals fragwürdiger [9].

Soweit es um die empirischen Daten geht, ist das Problem der Willensfreiheit also sicherlich noch offen [10]. Doch wie schon erwähnt, ist Freiheit nicht nur ein empirisches, sondern auch ein begriffliches Problem: Unklar ist vor allem, wie sinnvolle Kriterien für freie Handlungen aussehen können. Eine der am weitesten verbreiteten Annahmen lautet, dass Freiheit die Abwesenheit von Determination voraussetzt [11]. Die Auffassung erscheint zunächst extrem plausibel; dennoch gibt es wichtige Einwände. Wenn nämlich Freiheit durch Determination ausgeschlossen wird, dann müsste umgekehrt die Aufhebung von Determination zu einem Mehr an Freiheit beitragen. Das ist aber offenbar nicht der Fall: Die Aufhebung von Determination bewirkt nicht mehr Freiheit, sondern nur mehr Zufall. Wenn eine Handlung oder eine Entscheidung nicht determiniert ist, dann kann sie auch nicht durch den Handelnden selbst determiniert sein. Was passiert, hängt dann vom Zufall ab, doch für Zufälle können wir eine Person auch dann nicht verantwortlich machen, wenn sie in ihrem eigenen Kopf geschehen. Autoren, die Freiheit und Determination für vereinbar halten, argumentieren daher, dass es nicht darauf ankomme, ob eine Handlung determiniert ist oder nicht; entscheidend sei vielmehr, wodurch sie determiniert ist. Ist sie durch den Urheber selbst determiniert, dann ist sie selbstbestimmt und damit auch frei [1]. Hierzu ist auch nicht unbedingt ein bewusster Willensakt erforderlich; denkbar wäre auch, dass die Person sich vorher eine bestimmte Einstellungen soweit zu eigen gemacht hat, dass diese nunmehr unbewusst umgesetzt werden kann. Hieraus ergibt sich ein weiterer Einwand gegen die übliche Interpretation der Libet-Experimente [4].

Autoren, die die Vereinbarkeit von Freiheit und Determination behaupten, vertreten oftmals naturalistische Auffassungen; sie gehen also davon aus, dass geistige Prozesse physisch realisiert sind. Umgekehrt liegt es nahe, die Unvereinbarkeit von Freiheit und Determination zu postulieren, wenn man gleichzeitig einen Leib-Seele Dualismus vertritt, wie dies neben Libet selbst [12] [13] auch Schäfer [11] tut. Tatsächlich würde ein naturgesetzlicher Determinismus keinen Raum mehr für das Eingreifen geistiger Prozesse lassen, die nach dualistischer Überzeugung den Kern der Person ausmachen.

Schäfer argumentiert, dass der Naturalismus die qualitativen Eigenschaften von bewussten Zuständen wie z. B. Schmerzen nicht erklären könne. Die Behauptung ist sehr alt und auf den ersten Blick sehr plausibel [14] [15]. Doch abgesehen von einer Reihe gravierender theoretischer Einwände [16], lässt auch ein historischer Rückblick Zweifel aufkommen. Die These, geistige Eigenschaften könnten niemals in den üblichen wissenschaftlichen Kategorien erklärt werden, musste in der Geschichte immer wieder tief greifend modifiziert werden, weil die Wissenschaften eben doch die vermeintlich unmöglichen Erklärungen lieferten. Verfolgen lässt sich dies sehr schön an der Geschichte des Seelenbegriffs. In der Bibel wie in der griechischen Antike werden nicht nur die kognitiven Eigenschaften auf die Seele zurückgeführt, auch das Leben hat hier seinen transzendenten Ursprung und ist daher einer naturalistischen Erklärung entzogen. Der Seelenbegriff und damit der Rückgriff auf transzendente Erklärungen verliert an Bedeutung in dem Maße, wie es gelingt, wissenschaftliche Erklärungen für die zentralen geistigen Eigenschaften zu finden. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts führen nicht nur die legendären „Psychiker” psychiatrische Erkrankungen allein auf die immaterielle Seele zurück; der Erfolg der Lokalisationstheorien seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts [17], aber auch die Rückführung einzelner psychischer Erkrankungen auf ihre neuronale Ursachen entziehen solchen Vorstellungen den Boden [18], so dass F. A. Lange in den 1870er-Jahren schließlich eine „Psychologie ohne Seele” propagieren kann [14].

Tatsächlich haben sich die immer wieder postulierten vermeintlich unüberwindlichen Grenzen des Naturerkennens in der Regel als Grenzen des zeitgenössischen Vorstellungsvermögens erwiesen, das stets auf die Erklärungsmodelle angewiesen war, die Wissenschaft Technik der jeweiligen Epoche zur Verfügung stellten. Natürlich hat Descartes Recht, wenn er behauptet, es sei unvorstellbar, dass eine Maschine wie z. B. eine Uhr denken kann, doch das spricht nicht für die Existenz einer immateriellen Seele, sondern nur gegen die Angemessenheit des Vergleichs.

Doch ebenso unangemessen wie der Versuch, aus den Grenzen des zeitgenössischen Vorstellungsvermögens unüberwindbare Grenzen des naturwissenschaftlichen Forschungsprogramms abzuleiten, ist die Tendenz vieler Materialisten, die aktuellen Grenzen zu ignorieren und die vorliegenden wissenschaftlichen Ansätze als endgültige Lösung des Leib-Seele Problems auszugeben. Geistige Eigenschaften, die von diesen Theorien nicht erfasst werden konnten, wurden dabei kurzerhand als nicht erklärungswürdig oder gar als nicht existent abgetan. Kein Wunder, dass der Materialismus als reduktionistisch in Verruf kam. Parolen wie der La Mettriesche Vergleich von Mensch und Maschine oder gar Vogts und Cabanis' unglückselige Gleichsetzung des Verhältnisses von Gehirn und Bewusstsein mit dem von Urin und Nieren taten ein Übriges; außerdem nährten sie die Befürchtung, ein besseres Verständnis für die natürlichen Grundlagen der zentralen menschlichen Fähigkeiten führe zu einem naturwissenschaftlichen Methodenmonismus und stelle die menschliche Würde infrage.

Der Sache nach ist der Fehler einer solchen einseitigen Bevorzugung naturwissenschaftlicher Verfahren vor allem dort leicht zu erkennen, wo er sich gegen die Psychologie richtet: Tatsächlich wäre der Verzicht z. B. auf psychologische Methoden desaströs auch für die naturwissenschaftliche Hirnforschung, die ohne die Psychologie oft gar keine Möglichkeit hat, ihre Explananda zu beschreiben [19]. Eine FMRI-Untersuchung über Schmerzen muss erst einmal eine operationalisierbare Vorstellung davon haben, was Schmerzen ausmacht.

Angesichts dieser Entwicklungen erscheint eine gewisse Zurückhaltung gegenüber endgültigen Festlegungen darauf, was der Geist ist oder nicht ist, angebracht. Empirische Erkenntnisse lassen sich weder vorwegnehmen noch ausschließen - auch wenn wir unser Vorstellungsvermögen noch so sehr anstrengen. Keineswegs bedeutet dies, dass wir uns aufs reine Abwarten verlegen müssen: Natürlich kann man versuchen, die denkbaren Alternativen möglichst genau auszuformulieren, vor allem aber erscheint es notwendig, die Konsequenzen zu bedenken. Die obigen Bemerkungen zum Problem der Willensfreiheit lassen vermuten, dass diese Konsequenzen wesentlich weniger dramatisch ausfallen dürften, als das oft in der öffentlichen Diskussion behauptet wird. Tatsächlich sind unsere Überzeugungen, dass wir rational denken können, über Selbstbewusstsein verfügen und frei handeln können, nicht unmittelbar abhängig von Erkenntnissen darüber, wie diese Fähigkeiten realisiert sind - ein Auto fährt nicht langsamer, wenn man plötzlich feststellt, dass der Motor nicht aus Stahl, sondern aus Aluminium besteht. Zwar wird es notwendig sein, neben dem Freiheitsbegriff auch andere, für unser Selbstverständnis zentrale Begriffe angesichts des Fortschrittes empirischer Erkenntnisse neu zu durchdenken. Die gemeinsame Anstrengung von Hirnforschung und Philosophie liefert hierzu jedoch gute Voraussetzungen. Die wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Geistes und seiner natürlichen Grundlagen scheinen jedenfalls keine grundlegende Bedrohung unseres Selbstverständnisses darzustellen - im Gegenteil: Je weiter die Forschung reicht, desto besser werden wir verstehen, was die Grundlagen und Entstehungsbedingungen der Fähigkeiten sind, die unser Wesen ausmachen.

Literatur

  • 1 Brücher K, Gonther U. Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Neurobiologie. Eine methodenkritische Untersuchung. Fortschritte der Neurologie Psychiatrie 2006 (dieses Heft)
  • 2 Libet B, Gleason C A, Wright E W, Pearl D K. Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of Cerebral Activities (Readiness-Potential): The Unconscious Initiation of a Freely Voluntary Act.  Brain. 1983;  106 623-642
  • 3 Libet B. Unconscious Cerebral Initiative and the Role of Conscious Will in Voluntary Action.  The Behavioral and Brain Sciences. 1985;  8 529-539
  • 4 Emrich H M. Skizzen zu einer Neuropsychologie der Autonomie: Vergegenwärtigendes Vergessen, Subliminalität und Freiheit.  Fortschritte der Neurologie Psychiatrie. 2002;  70 511-519
  • 5 Keller I, Heckhausen H. Readiness Potentials Preceding Spontaneous Motor Acts: Voluntary vs. Involuntary Control.  Electroencephalography and Clinical Neurophysiology. 1990;  76 351-361
  • 6 Haggard P, Eimer M. On the Relation Between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements.  Experimental Brain Research. 1999;  126 128-133
  • 7 Herrmann C S, Pauen M, Min B K, Busch N A, Rieger J W. Eine neue Interpretation von Libets Experimenten aus der Analyse einer Wahlreaktionsaufgabe. In: Herrmann CS, Pauen M, Rieger JW, Schicktanz S (Hrsg). Bewusstsein. Philosophie, Neurowissenschaften, Ethik. München: Fink UTB 2005: 120-133
  • 8 Trevena J A, Miller J. Cortical Movement Preparation before and after a Conscious Decision to Move.  Consciousness and Cognition. 2002;  11 162-190
  • 9 Rösler F. Neuronale Korrelate der Handlungsausführung. Zur Validität der Experimente von Libet (1983). In: Köchy K, Stederoth D. Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem. Freiburg: Alber 2006
  • 10 Wallesch C W. Altes und Neues zum Leib-Seele-Problem - Über-Ich und Unbewusstes.  Fortschritte der Neurologie Psychiatrie. 2002;  70 509-510
  • 11 Schäfer M L. Die gegenwärtigen Geist-Gehirn-Theorien in der Analytischen Philosophie des Geistes und ihre epistemische Bedeutung für die Psychiatrie.  Fortschritte der Neurologie Psychiatrie. 2005;  73 129-142
  • 12 Libet B. A Testable Field Theory of Mind-Brain Interaction.  Journal of Consciousness Studies. 1994;  1 119-126
  • 13 Libet B. Mind Time. The Temporal Factor in Consciousness. Cambridge MA: Harvard University Press 2004
  • 14 Lange F A. Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. 2 Bde. Leipzig: J. Baedeker 1908
  • 15 Du Bois-Reymond E. Über die Grenzen des Naturerkennens. In: Wollgast S (Hrsg). Vorträge über Philosophie und Gesellschaft. Hamburg: Meiner 1974: 54-78
  • 16 Pauen M. Feeling Causes.  Journal of Consciouness Studies. 2006;  (im Druck)
  • 17 Hagner M. Homo Cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Frankfurt: Insel 2000
  • 18 Schott H, Tölle R. Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München: Beck 2006
  • 19 Klosterkötter J. Neurophilosophie, Neurowissenschaft und Psychopathologie.  Fortschritte der Neurologie Psychiatrie. 2005;  73 127-128

Prof. Dr. Michael Pauen

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