Dtsch Med Wochenschr 2006; 131(8): 371-372
DOI: 10.1055/s-2006-932526
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Evaluation des Medizinstudiums: Wen wann und warum zur ärztlichen Relevanz befragen?

Evaluation of the medical curriculum: who should be asked and when about the clinical relevance?R. Pabst
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Publication Date:
15 February 2006 (online)

Die Novelle der Approbationsordnung für Ärzte, die zum Beginn des Wintersemesters 2003/2004 in Kraft trat, ermöglicht den Medizinischen Fakultäten in Deutschland überraschend große Gestaltungsmöglichkeiten, und viele Fakultäten haben erfreulicherweise die Chance von Reformen des Curriculums ergriffen. In zahlreichen Fakultäten werden gerade neue Lehr- und Prüfungsformen eingeführt, was andererseits aber die Vergleichbarkeit des Lehrerfolgs behindert und den Studierenden einen in Deutschland im Gegensatz zum Ausland beliebten Hochschulwechsel erschwert. Neben der privaten Universität Witten/Herdecke mit geringen Studierendenzahlen pro Jahrgang haben inzwischen Aachen, Hannover und Köln Modellcurricula für die gesamten Jahrgänge begonnen. An der Charité dagegen wird der Reformstudiengang mit ca. 60 Studierenden neben dem „klassischen” Studiengang bereits seit mehreren Jahren durchgeführt. Derartige extreme Umstellungen reduzieren die Approbationsordnung fast auf das abschließende medizinische Staatsexamen.

Evaluationen der Lehre im Medizinstudium sind essentiell und haben unterschiedliche Ziele. Neben einer Rückmeldung an den Dozenten zu seiner Didaktik soll erfasst werden, ob die Ziele der Veranstaltung erreicht wurden. Evaluationen werden in der Zukunft immer mehr die Grundlage dafür sein, je nach Lehrleistung Mittel aus den Landeszuschüssen auf einzelne Abteilungen oder Dozenten zu verteilen („Lehr-LOM”). Kann aber ein Medizinstudent z. B. nach dem ersten Semester die Relevanz des Chemiepraktikums für die ärztliche Tätigkeit beurteilen? Deshalb ist der Zeitpunkt der Befragung zu Lehrveranstaltungen durch Studierende oder Ärzte von besonderer Bedeutung.

In diesem Heft der Deutschen Medizinischen Wochenschrift dokumentieren Hofer et al. [5] die Ergebnisse einer Befragung von Ärzten zum Zeitpunkt der Facharztprüfung zur Relevanz der Pflichtpraktika im Medizinstudium in Hinsicht auf die ärztliche Tätigkeit im Krankenhaus. Die besondere Bedeutung dieser Studie liegt in der großen Anzahl der Befragten, so dass für zahlreiche Gebietsbezeichnungen ausreichend Antworten vorlagen, um sinnvolle Schlüsse zu ziehen. Trotz der ausgewerteten Antworten von über 1000 Fachärzten bleibt allerdings die Frage, warum ca. 50 % der befragten Kolleginnen und Kollegen nicht geantwortet haben. War es den Nichtantwortenden nicht einsichtig genug, welche Bedeutung ihre Antworten für die aktuellen Diskussionen um die Studienreform in der Medizin haben würden?

Bei der derzeitigen Neuordnung der Lehre in den Fakultäten, der Schwerpunktsetzung des Lehrumfangs einzelner Themen im vorklinischen und klinischen Studienabschnitt ist von besonderer Relevanz, dass die befragten Ärzte die Fächer Makroskopische Anatomie und Physiologie als die wichtigsten Fächer für die ärztliche klinische Tätigkeit einschätzten. Die Biochemie oder die Medizinische Psychologie folgten. Weit abgeschlagen rangierten die Fächer Chemie und Physik. Interessant ist, dass die Reihenfolge der Fächer in ihrer klinischen ärztlichen Bedeutung in dieser großen Studie mit den Ergebnissen einer früheren Befragung aus Niedersachsen fast identisch ist [8]. Die Unterschiede zwischen Fachärzten operativer und nicht-operativer Fächer überraschten nicht. Beachtenswert ist aber, dass die Innere Medizin aus dem klinischen Teil des Studiums nur als ähnlich hoch relevant eingeschätzt wurde wie die Physiologie und Makroskopie in der Vorklinik. Da die Ärzte an den fünf Universitäten in Nordrhein-Westfalen studiert hatten, lag die Einschätzung offensichtlich nicht an Kursen an einzelnen Orten.

Eine sehr geringe Bedeutung wurde dem ökologischen Stoffgebiet, der Biomathematik, der Strahlenheilkunde und der Nuklearmedizin im Rückblick zuerkannt, was früheren Untersuchungen bei Studierenden nach dem Praktischen Jahr [7] oder am Ende der Weiterbildung [8] weitgehend entspricht. Bemerkenswert ist auch die vorsichtige Interpretation der Autoren, warum auch Ärzte mit abgeschlossener Promotion der Biostatistik einen geringen Stellenwert retrospektiv zuwiesen: Vielleicht war die Form der Lehre trotz des wichtigen Ziels nicht überzeugend. Besondere Defizite wurden im Bereich kommunikativer Kompetenzen und praktisch-klinischer Fertigkeiten bemängelt. Die Autoren [5] raten zu Recht von voreiligen Schlüssen ab, doch sind derartige Ergebnisse von viel größerer Bedeutung als wenn aus Einzelbeobachtungen und persönlichen Meinungen „Empfehlungen” für eine Studienreform gegeben werden, wie es leider oft erfolgt.

Auch international gibt es bisher nur wenige vergleichbare retrospektive Bewertungen des Medizinstudiums [1] [9]. Für sinnvolle Evaluationen in der Hochschullehre wird bedauerlicherweise nur schwer eine externe Finanzierung gefunden [2], obwohl die Notwendigkeit der Forschung auf dem Gebiet der Lehre auch international betont wird [3]. Im Wettbewerb um die besten Studierenden werden „rankings” der Lehre in den einzelnen Medizinischen Fakultäten, die ebenfalls mit wissenschaftlichem Anspruch erfolgen sollten (wie z. B. 4) in Zukunft eine größere Bedeutung erlangen.

Trotz der Forderung, kommunikativen und klinisch-praktischen Fertigkeiten im Studium der Medizin größere Bedeutung beizumessen [5], darf der Charakter des wissenschaftlichen Studiums nicht vernachlässigt werden [6]. Sonst ist die Basis für eine kritische ärztliche Weiter- und Fortbildung gefährdet.

Die Medizinstudenten von heute sind die ärztlichen Kollegen von morgen, und deshalb ist es sinnvoll, Studien wie die von Hofer et al. [5] nicht nur in Zeitschriften der medizinischen akademischen Lehre zu publizieren, sondern auch in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift. Vielleicht gelingt es dadurch, mehr Ärzte bei zukünftigen vergleichbaren Fragen zu motivieren, sich bei derartigen Evaluationen zu beteiligen und die Rücklaufquoten zu erhöhen.

Literatur

  • 1 Antepohl W, Domeij E, Forsberg P, Ludvigsson J. A follow-up of medical graduates of a problem-based learning curriculum.  Med Educ. 2003;  37 155-162
  • 2 Carline J D. Funding medical education research: opportunities and issues.  Acad Med. 2004;  79 918-924
  • 3 Dauphine W D, Wood-Dauphine S. The need for evidence in medical education: Development of best evidence medical education as an opportunity to inform, guide, and sustain medical education research.  Acad Med. 2004;  79 925-930
  • 4 Federkeil G. CHE Alumni-ranking Medizin. Ergebnisse einer vergleichenden Absolventenbefragung Humanmedizin des Centrums für Hochschulentwicklung, Arbeitspapier 57, 2004. www.che.de/downloads/AP57_213.pdf
  • 5 Hofer M, Jansen M, Soboll S. Verbesserungspotential des Medizinstudiums aus retrospektiver Sicht von Facharztprüflingen.  Dtsch Med Wochenschr. 2006;  131 373-378
  • 6 Pabst R. Kritische Bewertung der Reform braucht Zeit.  Dtsch Ärztebl. 2005;  102 A3572-A3574
  • 7 Pabst R, Rothkötter H -J. Wie beurteilen Medizinstudenten die Bedeutung verschiedener Lehrveranstaltungen für die ärztliche Ausbildung?.  Dtsch Med Wochenschr. 1995;  120 84-85
  • 8 Pabst R, Rothkötter H -J. Befragung in Hannover. Was Ärzte rückblickend von ihrer Ausbildung halten.  Dtsch Ärztebl. 1996;  93 A451-A452
  • 9 Paolo A M, Bonaminio G A. Measuring outcomes of undergraduate medical education: residency directorŽs ratings of first year residents.  Acad Med. 2003;  78 90-95

Prof. Dr. med. Reinhard Pabst

Abteilung für Funktionelle und Angewandte Anatomie, Medizinische Hochschule Hannover

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