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DOI: 10.1055/s-2006-933687
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Aus chirurgischer Sicht - Die Rolle der Anästhesiologie in der interdisziplinären Kooperation
Publication History
Publication Date:
23 February 2006 (online)
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Zum Beitrag „Der moderne Anästhesist - Perioperativer Mediziner im Krankenhaus der Zukunft” unter der Seniorautorenschaft des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin Prof. J. Radke (klinikarzt 2005; 34 (10): 280-285) erreichte uns in diesen Tagen ein kritischer Leserbrief des Konvents der Lehrstuhlinhaber in Deutschland für Allgemein- und Viszeralchirurgie.
Die kollegiale und konstruktive Zusammenarbeit von Anästhesie und Chirurgie am Patienten ist unabdingbar für die optimale Versorgung unserer Patienten und zur Optimierung der Ablauforganisation moderner Kliniken. Dies ergibt sich alleine aus der für die Medizin sehr seltenen Situation, dass während einer Operation zwei Fachkollegen (Chirurg und Anästhesist) eine auch juristisch geteilte Verantwortlichkeit für den Patienten haben.
Diese gemeinsame Basis wird aktuell durchgreifend gestört durch ein zunehmendes Fehlverständnis der Anästhesie in der Eigendefinition von Aufgaben und Arbeitsbereich. Der Anästhesist versteht sich in der oben genannten Veröffentlichung als perioperativer Manager, der „den Weg des Patienten durch alle Schritte der Diagnostik und Therapie begleitet. Hierdurch wird der Schritt vom Narkosearzt zum perioperativen Mediziner vollzogen.” Das Ausmaß der Fehleinschätzung wird durch die Behauptung deutlich: „Als perioperativer Mediziner trägt er (...) dazu bei, das perioperative Management eines Patienten unfragmentiert, standardisiert und eingebunden in multiple, effektiv kommunizierende Gruppen mit einem gemeinsamen Ziel umzusetzen.”
Tatsächlich gibt es in der Medizin derzeit wohl kein Fach, in dem der Patient mit geringerer personeller Kontinuität betreut wird als eben in der Anästhesie. Fast ausnahmslos wird der Patient in der Prämedikationssprechstunde im Vorfeld, bei der Prämedikation am Vortag der OP und während der eigentlichen Narkoseeinleitung von unterschiedlichen Ärzten betreut, die jeweils nach Aktenlage vorgehen. Während anspruchsvoller Operationen wechselt bei identischem Chirurgenteam der Anästhesist in der Regel mehrfach. Im Aufwachraum wird mindestens ein weiterer Anästhesist tätig, das Gleiche gilt für die Intensivstation, wenn diese unter anästhesiologischer Leitung steht (...).
Demgegenüber ist der Chirurg der zentrale Anbindungspartner des Patienten. (...) Er muss Schaden abwenden durch Erkennung und Behandlung der Komorbidität in Zusammenhang mit Anästhesie und Innerer Medizin. Er allein bringt die Summe dieser Befunde auf einen Nenner, bestimmt das Gesamtrisiko in Abhängigkeit von der operativen Strategie und stellt den Konsens mit dem Patienten darüber her. Der verantwortliche Chirurg ist prä-, intra- und postoperativ das einzige Bindeglied für den Patienten ohne Informationsverlust und in ungeteilter Verantwortung. Nach einer aktuellen Befragung von 507 Patienten der Chirurgischen Universitätsklinik Aachen fordern 93 % die Behandlung durch einen einzelnen Arzt, der als Spezialist für die bestehende Erkrankung ausgewiesen sein sollte (Krones et al. Chirurg 2006, im Druck). Vor diesem Hintergrund mutet es als Realitätsverlust an, wenn gefordert wird, dass Kommunikationsdefizite zwischen Ärzten und Pflegern verschiedener Stationen den Bedarf definieren für eine kontinuierliche perioperative Überwachung und Therapie der Patienten durch den Anästhesisten.
Die organisatorische Einschätzung, dass der Anästhesist intraoperativ zunehmend die internen Abläufe der verschiedenen Berufsgruppen koordiniert, ist eine Anmaßung, die nicht durch Fakten gestützt ist. (...) In vielen Kliniken - ausdrücklich nicht in allen - mehren sich die Stimmen, dass die Kernkompetenz der Anästhesie - Narkosetherapie und deren effiziente Organisation sowie postoperative Nachbetreuung der Narkoseauswirkungen - nicht in zu erwartender Konsequenz wahrgenommen wird. Es werden zu viele „Nebenkriegsschauplätze” eröffnet, die nicht unbedingt originäre Aufgaben der Anästhesiologie sind.
Zusätzlich Öl ins Feuer wird gegossen durch gezielte Übernahmeaktionen der Anästhesie im Bereich chirurgischer Intensivstationen. Ausdrücklich sind nicht Standorte gemeint, an denen die anästhesiologische Leitung absolut sinnvoll ist, da von chirurgischer Seite weder Expertise noch Engagement in den Intensivbereich eingebracht werden. Es geht vielmehr um den Versuch, Intensiveinheiten an großen Zentren und Universitätskliniken zu übernehmen, wo hohes Niveau und gute Struktur der Intensivmedizin von chirurgischer Seite vorgehalten wird. Es bestreitet niemand, dass die Etablierung einer interdisziplinären operativen Intensivmedizin durchaus Synergien freisetzen kann. Dies erfordert aber die Definition von Strukturen auf gleicher Augenhöhe. Was im Moment mit aller Schärfe von anästhesiologischer Seite an vielen Kliniken verfolgt wird, macht eine Sachfrage zu einer reinen Machtfrage.
Zusammenfassend ist der Deutsche Ordinarienkonvent der Allgemein- und Viszeralchirurgen der Auffassung, dass auf anästhesiologischer Seite dringend eine realitätsbasierte Rückbesinnung erforderlich ist. Die Überzeichnung des Anästhesisten, wie sie im Moment im Sinne einer globalen Verantwortung für die gesamte perioperative Phase vollzogen wird, entbehrt der Realität im Krankenhaus und führt zur durchgreifenden Polarisierung gegenüber der Chirurgie. Im Sinne unserer Patienten sollten wir demgegenüber bemüht sein, weiter konstruktiv und kollegial zu kooperieren.
Für den Konvent der Lehrstuhlinhaber für Allgemein- und Viszeralchirurgie: Prof. H. Becker (Sprecher)