Psychiatr Prax 2007; 34(2): 53-54
DOI: 10.1055/s-2006-940055
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Depression - und viele schauen (noch) weg!

Depression - But Many are (Still) Looking Away!Hermann  Spießl1 , Bettina  Hübner-Liebermann1 , Göran  Hajak1
  • 1Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität am Bezirksklinikum Regensburg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. Dezember 2006 (online)

Gemäß dem Bundesgesundheitssurvey 2000 sind nach den Phobien und den somatoformen Störungen die unipolaren Depressionen mit knapp 9 % die häufigsten psychischen Störungen [1]. Zusammen mit den Dysthymien errechnet sich eine 12-Monats-Prävalenz depressiver Störungen von fast 13 %. Bis zu ihrem 65. Lebensjahr erkranken in Deutschland etwa 25 % der Frauen und 12 % der Männer an einer klinisch relevanten Depression [2].

Der „Global Burden of Disease”-Studie der WHO zufolge sind unipolare Depressionen weltweit in allen Altersgruppen die häufigste Ursache für mit Behinderung gelebte Lebensjahre (YLD, Years of Life lived with Disability) [3] [4]. Sie sind Ursache für knapp 12 % aller YLD, was einer Zahl von über 67 Millionen durch Behinderung beeinträchtigte Lebensjahre im Jahr 2002 entspricht [5]. Selbst wenn man jeweils alle Infektionskrankheiten oder alle Herz-Kreislauf-Erkrankungen weltweit zusammen betrachtet, erreichen diese Krankheitsgruppen bei weitem nicht das Ausmaß der Beeinträchtigung, wie es die Krankheit „Depression” alleine bedingt. Nicht zu Unrecht spricht man von einer „Volkskrankheit” [6].

Neben den direkten Kosten, die für die stationäre, ambulante und rehabilitative Versorgung in Deutschland pro Patient etwa 5000 Euro jährlich betragen [7], verursachen Depressionen erhebliche indirekte Kosten: Gemäß dem Gesundheitsreport der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) von 2005 sind die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen von 1997 - 2004 um fast 70 % gestiegen [8]. Die Zahl der Krankheitstage aufgrund depressiver Störungen stieg gegen den Trend allgemein sinkender Krankheitsstände seit 2000 um über 40 %, die Zahl der Krankheitsfälle um 30 %. Bezogen auf 100 DAK-Mitglieder entfallen im Bundesdurchschnitt 44 Krankheitstage auf Depressionen (F32, F33). Ähnliche Zahlen finden sich auch bei anderen Krankenkassen.

Entsprechend den Statistiken der Deutschen Rentenversicherung sind im Jahr 2004 psychische Erkrankungen mit 30 % die häufigste Ursache für Erwerbsunfähigkeit, weit vor den Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems (19 %) oder des Herz-Kreislauf-Systems (11 %) [9]. Etwa 15 000 der jährlich ca. 50 000 Frühberentungen durch psychische Erkrankungen erfolgen wegen Depressionen. Etwa 20 % der stationär behandlungsbedürftigen Patienten mit unipolarer Depression sind berentet, bis zu ihrem 60. Lebensjahr sind es sogar 50 % [10].

Hinzu kommt eine im Vergleich zur Normalbevölkerung erheblich beeinträchtigte Lebensqualität in allen Bereichen [11], auch in objektiven Lebensqualitätsbereichen wie Wohnsituation und Zusammenleben [12]. Nicht nur das Leben Depressiver ist erschwert, die Depression ist auch eine tödliche Erkrankung: In Übereinstimmung internationaler Studien versterben etwa 10 - 15 % der Patienten mit Depressionen durch Suizid. Etwa alle 1,5 Stunden nimmt sich ein depressiver Mensch in Deutschland das Leben, durch Depressionen versterben pro Jahr fast so viele Menschen wie durch Verkehrsunfälle.

 Die Suizidrate bei Depressionen ist etwa 30-mal höher als in der Normalbevölkerung [13]. Neben einer erhöhten Suizidalität ist die Depression auch ein relevanter Mortalitätsfaktor insbesondere bei kardiovaskulären Erkrankungen: Das Mortalitätsrisiko bei Auftreten einer Depression in den ersten sechs Monaten nach Herzinfarkt ist um das Sechsfache [14], nach Schlaganfällen um mehr als das Dreifache erhöht [15].

Obgleich diese Zahlen eigentlich für sich sprechen, scheint die Depression in der Bevölkerung, aber auch in medizinischen Fachkreisen weniger gut bekannt zu sein als andere „Volkskrankheiten” wie Rückenschmerzen oder Diabetes mellitus. Es bestehen nämlich seit Jahren erhebliche diagnostische und therapeutische Defizite: Der Hausarzt diagnostiziert nur etwa 50 % seiner Patienten korrekt als depressiv, nur 25 % der depressiven Patienten bekommen Antidepressiva [16]. Aber auch die Betroffenen selbst und die Bevölkerung erkennen Depressionen bei sich oder anderen nicht, bezweifeln den Krankheitswert und haben Vorbehalte gerade gegenüber einer Behandlung mit Psychopharmaka: Nur knapp 32 % halten die Einnahme von Antidepressiva zur Behandlung der Depression für sehr geeignet, knapp 30 % halten sie hingegen für ungeeignet [17].

Das Thema „Depression” scheint von der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen und aus Unkenntnis oft missverstanden zu werden. Auch die Medien tragen bislang kaum zu einer besseren Aufklärung bei: Die Thematik „Depression” findet sich in den großen deutschen Tageszeitungen eher selten, biologische Ursachen werden im Vergleich zu psychosozialen Stressoren kaum berücksichtigt, über therapeutische Möglichkeiten wird wenig berichtet, eine positive Veränderung im Jahr 2000 im Vergleich zu 1990 ist nicht zu erkennen [18].

Wohl bei keiner Volkskrankheit besteht im Hinblick auf Erkennung und Behandlung ein solches Verbesserungspotenzial. Vor diesem Hintergrund gründete sich das „Deutsche Bündnis gegen Depression” [19], das aus einem Subprojekt des Kompetenznetzes „Depression, Suizidalität” hervorging [20]. Dieses Awareness-Programm setzt neben der Kooperation und Fortbildung von Hausärzten und so genannten Multiplikatoren (Lehrer, Altenpflegekräfte, Apotheker etc.) auf die Aufklärung der Öffentlichkeit (durch Vorträge, Plakate, Flyer, Broschüren, Kinospots, Pressearbeit etc.) sowie auf konkrete Angebote für Betroffene und Angehörige (u. a. Selbsthilfegruppen). Nachdem bei dem Modellprojekt in Nürnberg eine Reduktion der suizidalen Handlungen (nicht der Suizide!) um etwa 20 % erreicht werden konnte [19], wird das Bündnis deutschlandweit [21] und sogar europaweit implementiert [19] [22].

Leider scheinen all diese Bemühungen aber gerade bei der Bevölkerung (noch) nicht wirklich anzukommen: Trotz der umfassenden Aktivitäten des Nürnberger Bündnisses gegen Depression ist es nicht gelungen, die Meinung der Bevölkerung positiv zu beeinflussen. Obwohl das Thema „Depression” durch die Intervention in der Öffentlichkeit mehr präsent war (44 vs. 29 %), konnte z. B. die Einstellung gegenüber Antidepressiva nicht wesentlich verändert werden: Weiterhin glauben über 80 % der Bevölkerung, dass Antidepressiva süchtig machen und etwa 60 %, dass Antidepressiva die Persönlichkeit verändern [19]. Besonders nachdenklich stimmt es, wenn eine aktuelle repräsentative Erhebung in der bundesdeutschen Bevölkerung auf die Frage nach Einsparmöglichkeiten im Gesundheitswesen drei psychische Erkrankungen auf den Rängen eins bis drei findet: 1. Alkoholismus, 2. Depression, 3. Schizophrenie.

Nur 7 % der Bevölkerung schlagen keine Kürzungen in der Versorgung depressiver Patienten vor [23]!

Die Einstellung der Bevölkerung zu Patienten mit Depressionen hat sich im Vergleich der Jahre 1990 und 2001 nicht wesentlich verbessert [24]. Depressiv Erkrankte erfahren Stigmatisierung durch Ablehnung durch andere und durch die Berichterstattung in den Medien in ähnlicher Weise wie schizophren Erkrankte [25].

Es gibt also weiterhin viel zu tun! Wir sollten nicht müde werden, seelische Erkrankungen immer wieder in die Öffentlichkeit zu bringen. Lassen Sie uns mehr über Depressionen und die anderen psychischen Leiden sprechen! Es wird längerfristig nicht nur den Patienten und ihren Angehörigen helfen, sondern auch unsere tägliche Arbeit erleichtern.

Literatur

  • 1 Jakobi F, Wittchen H U, Holting C, Höfler M, Pfister H, Müller N, Lieb R. Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the general population: results from the German Health Interview and Examination Survey (GHS).  Psychol Med. 2004;  34 594-611
  • 2 Wittchen H U, Müller N, Schmidkunz B, Winter S, Pfister H. Erscheinungsformen, Häufigkeit und Versorgung von Depressionen. Ergebnisse des bundesweiten Gesundheitssurveys „Psychische Störungen”.  Fortschr Med Orig. 2000;  118 S4-10
  • 3 Murray C J, Lopez A D. The global burden of disease. Harvard; Harvard University 1997
  • 4 World Health Organization .World health report 2001: Mental health: New understanding, new hope. Geneva; WHO 2001
  • 5 www.who.int/evidence
  • 6 Spießl H, Hübner-Liebermann B, Hajak G. Volkskrankheit Depression. Epidemiologie, Versorgungssituation, Diagnostik, Therapie und Prävention.  Dtsch Med Wochenschr. 2006;  131 35-40
  • 7 Salize H J, Stamm K, Schubert M, Bergmann F, Härter M, Berger M, Gaebel W, Schneider F. Behandlungskosten von Patienten mit Depressionsdiagnose in haus- und fachärztlicher Versorgung in Deutschland.  Psychiat Prax. 2004;  31 147-156
  • 8 www.dak.de
  • 9 www.vdr.de
  • 10 Brieger P, Blöink R, Röttig S, Marneros A. Die vorzeitige Berentung von unipolar depressiv und bipolar affektiv Erkrankten.  Psychiat Prax. 2004;  31 203-206
  • 11 Brieger P, Röttig S, Marneros A. Lebensqualität bei unipolar depressiven und bipolar affektiven Patienten.  Psychiat Prax. 2004;  31 304-309
  • 12 Frei A, Ajdacic-Gross V, Rössler W, Eich-Höchli D. Auswirkungen von depressiven Störungen auf objektive Lebensqualitätsbereiche.  Psychiat Prax. 2004;  31 298-303
  • 13 Harris E C, Barraclough B. Suicide as an outcome for mental disorders.  Br J Psychiatry. 1997;  170 205-228
  • 14 Lesperance F, Frasure-Smith N, Talajic M. Major depression before and after myocardial infarction: its nature and consequences.  Psychosomat Med. 1996;  58 99-110
  • 15 Morris P LP, Robinson R G, Andrzejewski P, Samuels J, Price T R. Association of depression with 10-year poststroke mortality.  Am J Psychiatry. 1993;  150 124-129
  • 16 Jakobi F, Höfler M, Meister W, Wittchen H U. Prävalenz, Erkennens- und Verschreibungsverhalten bei depressiven Syndromen.  Nervenarzt. 2002;  73 651-658
  • 17 Althaus D, Stefanek J, Hasford J, Hegerl U. Wissensstand und Einstellung der Allgemeinbevölkerung zu Symptomen, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten depressiver Erkrankungen.  Nervenarzt. 2002;  73 659-664
  • 18 Kroll M, Dietrich S, Angermeyer M C. Die Darstellung der Depression in deutschen Tageszeitungen.  Psychiat Prax. 2003;  30 367-371
  • 19 Althaus D, Niklewski G, Pfeiffer-Gerschel T, Schmidtke A, Hegerl U. Vom „Nürnberger Bündnis gegen Depression” zur „European Alliance against Depression”.  Nervenheilkunde. 2005;  24 402-407
  • 20 Hegerl U, Ziegler W. Das Kompetenznetz Depression, Suizidalität.  Psycho. 2000;  26 315-342
  • 21 Spießl H, Hübner-Liebermann B. Prävention und Öffentlichkeitsarbeit: Regensburger Bündnis gegen Depression - ein Erfahrungsbericht.  Krankenhauspsychiatrie. 2004;  15 125-130
  • 22 Hegerl U, Wittmann M, Pfeifer-Gerschel T. European Alliance against Depression (EAAD). Europaweites Interventionsprogramm gegen Depression und Suizidalität.  Psychoneuro. 2004;  30 677-679
  • 23 Matschinger H, Angermeyer M C. The public's preferences concerning the allocation of financial resources to health care: results from a representative population survey in Germany.  Eur Psychiatry. 2004;  19 478-482
  • 24 Angermeyer M C, Matschinger H. Public attitude to people with depression: have there been any changes over the last decade?.  J Affect Disord. 2004;  83 177-182
  • 25 Holzinger A, Beck M, Munk I, Weithaas S, Angermeyer M C. Das Stigma psychischer Krankheit aus der Sicht schizophren und depressiv Erkrankter.  Psychiat Prax. 2003;  30 395-401

Priv.-Doz. Dr. med. Hermann Spießl

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität am Bezirksklinikum Regensburg

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