Psychiatr Prax 2007; 34(1): 4-6
DOI: 10.1055/s-2006-940149
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Aufmerksamkeitsstörung (ADS) - eine Diagnose, die weder Patienten noch Behandlern hilft

For and Against: Attention Deficit Syndrome (ADS) - A Diagnosis that Neither Helps Patients nor Therapists Pro:Thomas  Weniger, Kontra:Barbara  Alm, Esther  Sobanski
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Publication Date:
08 January 2007 (online)

Pro

Gegen Ende der 50er-Jahre brach in der amerikanischen Stadt Seattle eine merkwürdige Epidemie aus: immer mehr Autofahrer stellten fest, dass ihre Windschutzscheiben von kleinen pocken- oder kraterähnlichen Kratzern übersäht waren. Hinsichtlich einer Erklärungstheorie dieses Phänomens, das in der Folge Präsident Eisenhower sogar zum Einsetzen einer Untersuchungskommission vor Ort veranlasste, zerfielen die Betroffenen in zwei Lager: die „Fallout”-Fraktion mutmaßte einen Zusammenhang mit kürzlich zurückliegenden russischen Atomtests, die „Asphalttheoretiker” verdächtigten ursächlich frisch asphaltierte Autobahnen. Als die Männer des Eichamtes jegliche objektivierbare Zunahme zerkratzter Autoscheiben schließlich verneinen konnten, erwies sich, dass die Berichte über die Existenz pockennarbiger Autoscheiben in den Medien dazu geführt hatten, dass immer mehr Autobesitzer, anstatt wie bisher von innen durch ihre Frontscheiben zu sehen, diese mittels genauer Aufsicht untersucht hatten, indem sie sich von außen über ihre Scheiben beugten und sie auf kürzeste Entfernung anstarrten, wobei sich unter diesem Blickwinkel bislang unerkannte normale Abnützungsspuren erkennen ließen [1].

Die erhebliche Zunahme von als aufmerksamkeitsgestört diagnostizierten Patienten sowie hiermit einhergehend die Verordnungshäufigkeit von Psychostimulanzien in den vergangenen Jahren [2], zwingt zu einer distanziert kritischen Betrachtung dieses Phänomens. Unsicherheit vermag insbesondere der Umstand zu erzeugen, dass die ADS-Diagnose in keiner Weise auf diskret wahrnehmbaren Phänomenen fußt (wie dies z. B. bei einem Beinbruch der Fall ist, entweder gebrochen oder eben nicht), sondern auf der synthetischen Betrachtung einer quantitativ auffälligen Art und Weise, im Leben zu stehen. Hinzu kommt, dass dieses „pattern” erst dann zum Problem wird, wenn es auf Umgebungs- und Erwartungsbedingungen trifft, die damit nicht in Übereinstimmung zu bringen sind („not to fit”), was dieses einer ähnlichen Problematik unterwirft, wie sie auch dem Psychopathiebegriff zugrunde liegt, weil der Integrationsfähigkeit der Umgebung eine - vielleicht: entscheidende - Wirkung in Hinsicht auf die Manifestation einer ADS-Problematik zukommt.

Eine um Entpathologisierung bemühte Sicht könnte „ADSler” ganz allgemein gesprochen auch als Menschen verstehen, deren besondere neuronale Verdrahtung (oder Transmitterbesatz) zu einer Fähigkeit (und Neigung) zur Parallelverarbeitung von Informationen bei gleichzeitiger Filterschwäche führt. Bedingt dies einerseits die Gefahr einer Wahrnehmungsüberschwemmung („over-inclusement”), können Betroffene durch eine überdurchschnittliche Intelligenz und Leistungsfähigkeit einer Dekompensation oft erfolgreich entgegenarbeiten. Verglichen mit einem Computer würden ADSler also dazu neigen, mehrere Programme gleichzeitig laufen zu lassen, wobei ein rasch taktender Prozessor bei deren Bewältigung hilfreich ist. Da diese Arbeitsweise jedoch vergleichsweise viel Strom aus dem Akku zieht, muss dieser über den Dynamo Stimulation zeitnah aufgefüllt werden, was im Ergebnis zur bekannten Gradwanderung zwischen möglicher Über- bzw. Unterstimulation der Merkmalsträger führt.

Insbesondere die Unterforderung, verbunden mit Empfindungen von Leere oder Langeweile („verdünnter Schmerz”), erklärt die äußerlich erkennbare Neigung zu motorischer (Hibbeln, Ticks, Überbewegungen) oder pharmakologischer (Koffein, Nikotin, andere Drogen) Selbststimulation Betroffener sowie das zwanghaft anmutende Aufsuchen aller Arten von Außen- bzw. Fremdstimulation („Dopamin-Junkies”, „sensation-seeking-behavior” mit Wahl entsprechender beruflicher Tätigkeiten, aber auch Konfliktschürer, die provozieren und sich „zum Affen machen”).

Treffen hierbei mögliche Fehlanpassungen wie Stimmungslabilität, Sucht, Dissozialität auf einen Behandler, der sich in der Pflicht fühlt, eine übergreifende Kategorisierung in ein griffiges Krankheitskonstrukt vorzunehmen, ist ein neuer ADSler geboren. Für den Betreffenden beinhaltet diese diagnostische Einordnung neben dem „Segen” nunmehr spezialisierter professioneller Zuwendung einschließlich möglicher BTM-pflichtiger pharmakologischer Unterstützung jedoch einen hohen Preis, der im Einschwingen auf einen immensen identitätsbildenden Attraktor (ein Selbstkonzept mit Sogwirkung) besteht, dem neben entlastenden („ach deshalb komme ich im Beruf mit Vorgesetzten nicht zurecht”) auch aufwertende („auch Mozart und Einstein zählen ja angeblich zum Klub”) und durch äußere Verstärker (Wucht der Randgruppenidentität) gestützte Implikationen innewohnen und der sich in der Praxis als ausgesprochen schwer aufhebbar, ja geradezu „klebrig”, erweist.

So kann man sich einen Jetpiloten konstruieren, der gerade aufgrund seiner ADS-Besonderheiten im Cockpit über Jahre und Jahrzehnte seine überragenden Fähigkeiten ausspielen kann (dort bekommt er ja auch ausreichend Stimulationsinput!) und der dann, aufgrund eines Bandscheibenleidens zum Bodenpersonal versetzt anhand der ihn langweilenden Arbeit „plötzlich mit ADS dekompensiert”.

Ist es akzeptabel, sich einem generalisierenden Krankheitskonzept zu- und unterordnen zu lassen, das in Hinsicht auf seine „Verwirklichung” von solchen Variablen abhängig ist? Oder gilt es nicht vielmehr, ADS-Eigenschaften im Einzelfall - ähnlich dem Zielen über Kimme und Korn beim Schießen - einem Abgleich mit den jeweiligen individuellen Lebens- und Beziehungsanforderungen der Einzelsituation zuzuführen und somit hochindividualisierte Lösungsansätze ohne übergreifendes Konstrukt vorzunehmen? Dies würde dann beispielhaft zu einer Aussage führen, wie sie mir seitens eines meiner Klienten vorgetragen wurde: „Im Hinblick auf meine Tätigkeit als Biologielehrer habe ich nach der zweiten Stunde ein ADS, wenn es mir aber gelingt, meinen Stundenplan so zu gestalten, dass ich zwischen Biologie- und Sportunterricht hin und her wechseln kann, habe ich kein ADS”.

Solcher Sichtweise kann mit der derzeitigen diagnostischen und therapeutischen Situation nur unzureichend Rechnung getragen werden, nach welcher im Wunsch, zu einem objektiven Ein- oder Ausschluss zu gelangen, eine Zuweisung zur Dichotomie betroffen/nicht betroffen und damit mittelbar krank/gesund erfolgt, womit aus der Forderung nach einer Hochindividualisierung in der Praxis eher die Gefahr einer Hochinvalidisierung entsteht.

Weil das so ist und weil nach meiner persönlichen Erfahrung und Überzeugung die Vorteile dieses Vorgehens begonnen haben, hinter die Nachteile zurückzutreten, schlage ich vor, die Sicherheit eines als Krankheitsentität festlegbaren ADS aufzugeben, wie dies in Hinblick auf die Homosexualität in der Vergangenheit getan wurde. Um nochmals abschließend mit Watzlawick zu sprechen: damit waren auf einen Schlag Millionen von Menschen geheilt!

Literatur

  • 1 Watzlawick P. „Wie wirklich ist die Wirklichkeit”. München; Piper 1976: 84
  • 2 Schubert I, Lehmkuhl G, Spengler A. et al . Methylphenidat bei hyperkinetischen Störungen. Verordnungen in den 90er-Jahren.  Dtsch Ärztebl. 2001;  98 A 541-544
  • 3 Biederman J. Attention-deficit/hyperactivity disorder: A selective overview.  Biol Psychiatry. 2005;  57 1215-1220
  • 4 Kessler R C, Adler L, Barkley R, Biederman J, Conners C K, Demler O, Faraone S V, Greenhill L L, Howes M J, Seenik K, Spencer T, Ustun T B, Walters E E, Zaslavsky A M. The Prevalence and Correlates of Adult ADHD in the United States: Results From the National Comorbidity Survey Replication.  Am J Psychiatry. 2006;  163 (4) 716-723
  • 5 Sobanski E, Alm B. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Erwachsenen.  Nervenarzt. 2004;  75 697-715
  • 6 Ebert D, Krause J, Roth-Sackheimer C. ADHS im Erwachsenenalter - Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsens mit Unterstützung der DGPPN.  Nervenarzt. 2003;  10 939-946
  • 7 Diagnosis and Treatment of Attention Deficit Hyperactivity Disorder.  NIH Consens Statement. 1998;  16 (2) 1-37
  • 8 McGough J J, Smalley S L, McCracken J T, May Yang M S, Del'Homme M, Lynn D E, Loo S. Psychiatric comorbidity in adult attention deficit hyperactivity disorder: findings from muliplex families.  Am J Psychiatry. 2005;  162 1621-1627
  • 9 Faraone S V, Spencer T, Aleardi M, Pagano C, Biederman J. Meta-analysis of methylphenidate for treating adult attention-deficit/hyperactivity disorder.  J Clin Psychopharmacol. 2004;  24 24-29
  • 10 Wilens T E, Faraone S V, Biederman J, Gunawardene S. Does stimulant therapie of attention-deficit/hyperactivity disorder beget later substance abuse? A meta-analytic review of the literature.  Pediatrics. 2003;  111 179-185
  • 11 Hesslinger B, Philipsen A, Richter H, Ebert D. Psychotherapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Ein Arbeitsbuch. Göttingen; Hogrefe 2004
  • 12 Gabbard G O, Freedman R. Psychotherapy in the journal: What's missing?.  Am J Psychiatry. 2006;  163 182-184

Dr. med. Thomas Weniger

Gartenstraße 8

88239 Wangen

Email: thweniger@aol.com

Dr. med. Dipl.-Psych. Barbara Alm

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, J5

68159 Mannheim

Email: barbara.alm@zi-mannheim.de